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Nur ein Satz pro Tag

Lukas hat panische Angst vor Hausarbeiten. Wie Uni und Prüfungsamt mit schwierigen Fällen umgehen und welche Schwächen das System hat.

von Robert Gruhne

Symbolfoto: Dominik Itzigehl | Julian Hoffmann

„Wenn alles gut läuft, muss man uns eigentlich erst aufsuchen, um sein Zeugnis abzuholen“, erklärt Elke Netz. Sie leitet mit dem ASPA das größte Prüfungsamt der Universität, das für etwa die Hälfte der Studierenden, vorwiegend aus den Geistes- und Sozialwissenschaften und dem Lehramt, zuständig ist. Obwohl der Großteil laut Netz „einfach durchstudiert“, gehört für viele der Gang zum Prüfungsamt zum Studium dazu. Die Gründe dafür sind vielfältig und oft komplex.

Auch Lukas [Name von der Redaktion geändert] hatte keine Probleme im Studium, bis er im dritten Semester bei einer Hausarbeit durchfiel. „Das hat in mir irgendetwas getriggert“, sagt der Lehramtsstudent der Fächer Deutsch und Geschichte, dem zuvor alles gelungen war. In den folgenden Wochen konnte er nichts mehr essen, ohne sich zu übergeben, wachte nachts wie gelähmt auf und hatte immer wieder Heulkrämpfe und Zitteranfälle. Ein Arzt diagnostizierte Angststörungen und Depressionen. Bis heute, fünf Jahre später, hat er panische Angst vor Hausarbeiten.

Seitdem hatte Lukas aufgrund seiner Erkrankung mehrmals mit dem ASPA zu tun. Einmal wollte er von einer Prüfung zurücktreten und ließ sich dort beraten. Er stellte einen Antrag an den Allgemeinen Prüfungsausschuss, denn nur der darf darüber entscheiden. Um sein Anliegen überzeugender zu machen, ließ er sich die Notizen seines Psychotherapeuten geben. Lukas kritisiert, dass nicht transparent genug sei, wonach der Ausschuss entscheide. Die Studierenden gäben dadurch eher zu viel als zu wenig von sich preis: „Ich mit einer psychischen Erkrankung muss mich nackt machen.“

Im Sinne der Studierenden

Adrian Simpson ist Professor für Sprechwissenschaft und sitzt dem Prüfungsausschuss vor. Er erwidert: „Wenn ein Antragsteller aufgrund eines psychischen Leidens mit dem Studium Probleme hat, dann müssen wir das wissen.“ Simpson beteuert, dass das Gremium vertraulich mit den Informationen umgehe und keine Namen kenne. Für einen Antrag sei eine Begründung oder ein ärztliches Attest eben wichtig. „Bei Krankheit, Familien- oder Beziehungsproblemen und so weiter entscheiden wir aber in der Regel für die Studierenden.“

Das Gremium besteht aus sechs Lehrenden und drei Studierenden, die von den Fakultätsräten gewählt werden. „Alle Anträge, die wir bearbeiten, sind eigentlich Sachen, die aufgrund der Prüfungsordnungen von vornherein abgelehnt werden müssten“, fasst Simpson die Fälle – von der nachträglichen Prüfungsanmeldung über Notenanfechtungen bis zum Rücktritt – zusammen. Im Jahr 2018 verhandelte der Ausschuss etwa 1.100 Fälle und entschied zu 76 Prozent im Sinne der Studierenden.

„In eine Entscheidung fließen viele Faktoren ein“, erläutert Simpson. Ob die Person kurz vor dem Abschluss steht oder beim zweiten Härtefallantrag noch nicht einen Punkt auf dem Konto hat. Oder ob die Entscheidung eine Benachteiligung anderer darstellt. Für Simpson ist es wichtig, dass Betroffene auch selbst aktiv werden: „Ich will wissen, dass sich jemand selbst hilft oder Hilfe holt, um durch das Studium zu kommen.“

Sich selbst helfen

Lukas hat erst versucht, allein mit der Angst klarzukommen. Während er mündliche Prüfungen „aus dem Ärmel schüttelte“, konnte er bei Hausarbeiten nicht aufhören, sich Gedanken zu machen: „Ich habe pro Tag nur einen Satz geschrieben. Ich konnte immer erst weitermachen, wenn ich damit zufrieden war.“ Zwischenzeitlich stand er kurz davor, das Studium zu schmeißen. Nach zwei Jahren suchte Lukas sich professionelle Hilfe. Für ihn waren die Psychosoziale Beratung des Studierendenwerks und das Schreibzentrum der Universität gute Anlaufstellen, mit deren Unterstützung er seine Ängste mildern konnte. Wirklich helfen konnten ihm schließlich eine Psychotherapie und Medikamente.

Auch die Studierendenräte an FSU und EAH bieten eine Prüfungsberatung an. Mike Niederstraßer, selbst Bachelorstudent der Soziologie, hatte im letzten Jahr achtzig neue Beratungsanfragen. Manche lassen sich per Mail lösen, andere erfordern jahrelange Begleitung. Er ist kein Rechtsanwalt, aber gibt Tipps, wie man argumentiert und wohin man sich wenden kann: “Beim ASPA bleibt oft wenig Zeit für lange Gespräche. Die Zeit kann ich mir nehmen.”

Die Probleme liegen tiefer

In seinem Tätigkeitsbericht spart Mike nicht mit Kritik am ASPA: Unter anderem sei die Aktenführung „nicht des Begriffs wert“, die Beratung teilweise fehlend, unvollständig und tendenziös. „Ich verstehe, dass das alles aufwendig ist, aber die Entscheidungen können einen ein Leben lang belasten“, sagt er. Zudem neige die Universität dazu, Verfahren so lange hinauszuzögern, bis die Betroffenen einknickten. „Problemfälle werden uniseitig stets als Einzelfälle, nicht aber als Hinweis auf ein tiefer liegendes Problem angesehen“, meint Mike.

Laut Simpson sei man bei Problemen, die gehäuft auftreten, nicht ganz so untätig: „Da kommt von uns auch schon mal ein strenger Brief an die Kollegen.“ Die Qualität der Beratung im ASPA bewertet Netz selbst als gut und hebt besonders die ständige Erreichbarkeit hervor. Viel Kritik sei zudem nicht wirklich an das Amt gerichtet, sondern betreffe die Prüfungsordnungen der Fakultäten, an die man gebunden sei. Lukas findet dennoch, dass das ASPA noch klarer kommunizieren könne, „um seine Bedrohlichkeit zu verlieren“.

Die Probleme sind für ihn grundlegender: „So wie das System Universität jetzt funktioniert, ist es nicht gerecht. Ich kenne reihenweise Leute, die ausfallen. Leute in der Tagesklinik, in Therapien, im Freisemester. In meinem Jahrgang kommt da bestimmt eine kleine Schulklasse zusammen.“ Das hat ihm zufolge auch mit den engen Grenzen der Prüfungsleistungen zu tun. Obwohl er Lehrer werden will, muss er fast nur Hausarbeiten schreiben, anstatt praxisnähere Prüfungen. „Ich habe jede Option wahrgenommen, Hausarbeiten zu vermeiden. Und trotzdem habe ich in meinem Studium sechzehn geschrieben.“ Lukas plädiert für eine flexiblere Wahl der Prüfungsform und die Möglichkeit, Abgabetermine einfach verschieben zu können.

Dass die Universität durchaus zu Veränderungen bereit ist, zeigte sich im letzten Sommer. Der Senat legte die Anmeldefrist für Prüfungen auf zehn Wochen nach Vorlesungsbeginn fest. Pro Studienfach gibt es seit dem Wintersemester 2018 außerdem einen Drittversuch, der ohne Angabe von Gründen gewährt wird. Netz erhofft sich von der neuen Regelung weniger Anträge: „Wir schreiben auch lieber Zeugnisse.“

Simpson wäre am liebsten noch weiter gegangen. Er forderte die An- und Abmeldung über Friedolin bis zwei Wochen vor Prüfungszeit. Laut ASPA sei das für die Planung von speziellen Lehrveranstaltungen wie Sport- und Laborkursen oder Praktika jedoch schwierig. Auch die Friedolin-Technik meldete technische Bedenken. Netz rät Studierenden, sich innerhalb der regulären Frist erst einmal für alles anzumelden. „Raus kommt man leichter“, erklärt sie, nämlich bis zwei Wochen vor Vorlesungsende.

Mehr Dialog

Einig sind sich Uni und Studierende, dass mehr Dialog über Prüfungsprobleme allen gut tut. Lukas findet es „wichtig, darüber zu reden, weil es so viele gibt, die das betrifft“. Simpson betont, dass Studierende bei ihm „immer willkommen“ seien. Und Mike ermutigt Studierende dazu, sich bei der Neugestaltung der Prüfungsordnungen zu engagieren. Bis zum 30. September müssen diese dem neuen Thüringer Hochschulgesetz angepasst werden. Vor Kurzem hat auch der Stura den Arbeitskreis ASPA wiederbelebt und sucht nach Interessierten.

Wie viele andere Studierende sitzt Lukas zurzeit wieder jeden Tag in der Thulb und schreibt an seiner Abschlussarbeit. Vor Kurzem hatte er einen Rückfall und konnte mehrere Wochen nicht weiterarbeiten. Da er ein Staatsexamen ablegt, beantragte er beim Landesprüfungsamt eine Schreibzeitverlängerung. Mittlerweile weiß er genau, wie das Verfahren läuft. Lukas hat jetzt einen Monat länger Zeit. Wie immer hat er trotzdem daran gezweifelt, dass sein Antrag durchgeht.

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