„Arbeit als Lebenstätigkeit”

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Interview mit einem Professor der Soziologie

Das Gespräch führte Laura Wesseler




Professor Klaus Dörre ist Inhaber des Lehrstuhls für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie und Mitorganisator der Konferenz „Arbeit neu denken“. Mit Akrützel sprach er über neue Entwicklungen in der Arbeitswelt und die Problematik des heutigen Arbeitsbegriffes.

Foto: Privat

Was hat es mit dem Titel „Arbeit neu denken“ genau auf sich?

Die Debatte über Arbeit wird mit Begriffen geführt, die nichts mehr mit der Realität zu tun haben. Es gibt Assoziationen, die vieles, was typisch für die neue Arbeitswelt ist, gar nicht mehr erfassen. Das ist ein Grundgedanke der Konferenz. Und wenn so viele Begriffe nicht mehr zur Realität passen, muss man darüber neu nachdenken – auch um überhaupt wieder gestaltend eingriffsfähig zu werden.

In welcher Weise drückt sich denn dieser Wandel der Erwerbsarbeit aus?

Die Arbeitswelt hat sich dramatisch verändert. Zu den vier wichtigsten Tendenzen gehören die Informatisierung des Produktionsapparates, die Prekarisierung von Erwerbsarbeit, die Feminisierung und die organisierten Arbeitsbeziehungen. Mit der Informatisierung meine ich, dass Sie heutzutage in jeder Supermarktkasse einen PC integriert haben. Wir sprechen von einer informationstechnologischen Durchdringung des gesamten Produktionsapparates. Prozesse können transnational auf neue Weise zerlegt und wieder zusammengesetzt werden. Konzerne können zum Beispiel ganze Aufträge fremd vergeben und beschließen, an welchem Standort sie einen bestimmten Produktionsschritt machen wollen.

Wie verhält es sich mit der zweiten neuen Tendenz in der Erwerbsarbeit?

Der zweite Trend ist die Prekarisierung, also das Auseinanderbrechen von bezahlter Erwerbsarbeit. Immer mehr Menschen sind zwar davon abhängig, aber auf der anderen Seite bricht die soziale Schutzhülle weg, also die wohlfahrtsstaatliche Regulierung. Weltweit betrachtet haben Sie noch 20 Prozent einigermaßen gesicherte Beschäftigte, 20 Prozent prekär Beschäftigte und 60 Prozent informell Beschäftigte, die überhaupt keinen Arbeitsplatz haben. Diese Menschen verdienen einen Dollar fünfundzwanzig am Tag und leben in absoluter Armut.

Was ist mit den Trends Feminisierung und organisierte Arbeitsbeziehungen gemeint?

Die Feminisierung der Arbeit meint, dass Kriterien, die früher nur für Frauenarbeit gegolten haben, also Flexibilität und Arbeit mit Dienstleistungscharakter, sich verallgemeinern. Die gesamte Gesundheits- und Pflegebranche gewinnt somit an Bedeutung. Der letzte Trend betrifft die organisierten Arbeitsbeziehungen. Der kapitale Arbeitskonflikt schien in entwickelten kapitalistischen Ländern lange Zeit befriedet. Die Bedeutung von Gewerkschaften, die diesen Konflikt in regulierte Bahnen gelenkt haben, wird überall schwächer.

Sie haben eben von prekären Arbeitsverhältnissen gesprochen, was bedeutet das genau?

Prekär bedeutet unsicher, heikel und auf Widerruf gewährt. Das sind Beschäftigungsverhältnisse, die nicht dauerhaft oberhalb eines kulturellen Minimums existenzsichernd sind und deshalb in den Dimensionen Anerkennung, Entlohnung und Integration beständig diskriminieren. Prekarität bestimmt sich im Verhältnis zur sogenannten „Normalbeschäftigung“, also dass man dauerhaft für einen Arbeitgeber auf Vollzeitbasis tätig ist und dass die Löhne mehr als nur die reine Existenzsicherung garantieren.

Werden diese Arbeitsverhältnisse im Laufe der nächsten Jahre zunehmen?

Das hängt natürlich von der Politik ab. Ich würde dafür plädieren, die momentane Entwicklung zu stoppen und endlich Eingriffsformen zu finden. Seit den letzten zehn Jahren ist es allerdings so, dass es auch in der Bundesrepublik eine enorme Ausweitung der prekären Arbeitsverhältnisse gibt. Mehr als 20 Prozent der Arbeitnehmer arbeiten im Niedriglohnsektor. Wir haben fünf Millionen Menschen, die weniger als sieben Euro netto in der Stunde verdienen. Hochgerechnet kommen die Arbeitnehmer damit zum Teil auf Löhne, mit denen sie immer noch Hartz IV beziehen müssen, um einigermaßen über die Runden zu kommen.

Wie ist es denn möglich die weitere Ausbreitung dieses Niedriglohnsektors zu verhindern?

Ein erster Schritt wäre ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn. Früher oder später werden die Regierungen daran nicht vorbei kommen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, die politische Repräsentation der Menschen in prekären Verhältnissen herzustellen. Da müsste man dafür sorgen, dass Formen der Selbstorganisierung und selbsttätigen Inter­essenvertretung wieder unterstützt werden. Das ist eigentlich der zentrale, für unsere Demokratie entscheidende Punkt.

Erfüllen Ihrer Meinung nach typische Arbeitnehmervertretungen wie die SPD oder Gewerkschaften ihre Aufgabe nicht mehr?

Die Sozialdemokratie ist Teil des Problems. Sie hat mit ihrer Arbeitsmarktpolitik die Probleme verschärft. Die Gewerkschaften haben traditionell Schwierigkeiten Menschen zu organisieren, die in unsicheren Verhältnissen leben.

Passt der Begriff der bezahlten Erwerbsarbeit überhaupt noch auf die heutigen Verhältnisse?

Der Begriff blendet vieles aus. 80 Prozent der Kernarbeit in der Pflege sind nicht bezahlt. Und wo sie bezahlt wird, wird sie äußerst prekär, zum Teil sogar in illegalen Formen verrichtet. Da denke ich an den letzten Tatort: die Polin, die 24 Stunden lang illegal einen Demenzkranken für 1.000 Euro im Monat betreut. Regulär müssten sie fünf Vollzeitarbeitskräfte beschäftigen und das würde mindestens 13.000 Euro kosten. Da sehen Sie, dass das traditionelle Denken von Arbeit nicht mehr funktioniert.

Muss der heutige Arbeitsbegriff und damit das System Kapitalismus überdacht werden?

Im Kapitalismus wird Arbeit immer als Kos­tenfaktor und Rationalisierungsmaßnahme thematisiert. Wenn Sie sich vorstellen, dass es mit dem materiellen Wachstum so nicht weitergeht, dann würde das letztendlich bedeuten, dass wir auch den Begriff Arbeit neu definieren müssen, weil die Menschen eine Kompensation für positionale Güter und Konsumerismus brauchen. Arbeit muss wieder zu einer Lebenstätigkeit werden und ob das im Kapitalismus möglich ist, da habe ich meine Zweifel.

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