„Leben ist Unterwegssein“

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Ein Philosoph hält ein Plädoyer für das Reisen

Das Gespräch führte Jana Felgenhauer

Dr. Vollbrecht

Dr. Vollbrecht reist leidenschaftlich gern.
Foto: privat

Abenteuer sind besondere Erlebnisse, die dem Alltag den Mittelfinger zeigen sollen. Um sie zu erfahren, bewegen wir uns meist aus unserer gewohnten Umgebung hinaus auf Kurztrips oder auch längere Reisen. Der Philosoph Dr. Peter Vollbrecht hat mit Akrützel über den wahren Kern des „Unterwegsseins“ gesprochen. Er selbst hat bereits fünf Jahre in Indien gelebt, aber auch Mittelamerika, Südostasien, ach, fast die ganze Welt erkundet. Seit ein paar Jahren organisiert und leitet er philosophische Reisen – zum Beispiel in die Toskana –, um dort mit den Seminarteilnehmern ethische Konzepte nach Aristoteles und Kant zu diskutieren.

Welches Reiseziel würden Sie empfehlen, wenn man ein Abenteuer erleben möchte?
Der Begriff Abenteuer ist erst einmal schwierig zu definieren und auch etwas unspezifisch. Er kann Geistiges, Intellektuelles bedeuten, es kann aber auch etwas damit zu tun haben, Leib und Leben aufs Spiel zu setzen und somit einen Kitzel zu erfahren.

Unter Abenteuer verstehe ich, dass man etwas Außergewöhnliches erlebt, etwas, das sich vom Alltag abhebt, vielleicht sogar eine Gefahr birgt.
Ich sage immer, dass das ganze Leben eigentlich ein Unterwegssein ist, ein „Sich-ins-Offene-Bewegen“. Das nimmt den Charakter von Abenteuer ganz ursprünglich an.

Schlagen Sie doch einmal ein Reiseziel in Deutschland vor, das auch für uns Studenten interessant sein könnte.
Wenn es ein näheres Ziel sein soll, würde ich eine Hallig [kleine Insel im Wattenmeer, Anm. D. Red.]an der Nordseeküste favorisieren. Dort ist man mit sich allein und muss sich wegen der Gezeiten mit einem neuen Raum- und Zeitgefühl auseinandersetzen. Raum und Zeit sind ja philosophisch gesehen die formalen Bedingungen für unsere Existenz. Auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, ohne das Gerede der Kultur, kann eine sehr interessante Erfahrung sein.

Bedeutet Reisen also auch Selbstfindung?
Ursprünglich war das einmal der Sinn der Reise. Zu Goethes Zeiten ging es ja darum hinauszugehen in die Welt. Die Landschaft wurde dann zur Metapher dafür, wie sich der Mensch beschreibt. In dem Sinne sind Reisen auch immer existenziell gewesen. Nach Aufkommen des Massentourismus ist die Reise dann zur Industrie degeneriert. Sie ist zu einem breiten Lebensstil geworden, hat aber nichts Persönliches mehr. Meine Idee von Reisen und mein Ratschlag wären, dass eben nur das existenzielle, persönliche Erlebnis – oder die Suche danach – eine Reise wirklich nachhaltig macht. Andernfalls wird sie zum Konsumartikel, dessen Lebendigkeit und Bildkraft sehr schnell nachlassen.

Worin liegt denn der Reiz des Massentourismus?
Denkt man an All-Inclusive-Angebote, ist das eine relativ billige Art zu reisen. Außerdem ergibt sich der Massentourismus aus der Enge der unterwürfigen Arbeitsverhältnisse, in denen viele Menschen stecken. Im Urlaub können sie endlich mal wieder den Herren spielen.

Auf Arbeit der Angestellte und im Urlaub der König?
Ja genau. Im Urlaub können sich die Leute einmal richtig ausleben und empfinden das dann als Befreiung von der Arbeitswelt. Beim Reisen ist es ja so, dass man seinen konventionellen Rahmen verlässt. Im Gegensatz zu ihrem sonstigen Umfeld ergibt sich hier für die Menschen ein großer Freiheitsraum.

Was kann man machen, um tiefer in eine fremde Kultur einzutauchen?
Es ist wichtig zu wissen, was man in einem Land entdecken möchte. Wer sich zum Beispiel vornimmt sich anzuschauen, wie Libyen nach Gaddafi aussieht, sollte sich zuerst fragen, mit wem man reden könnte. Der Redakteur einer ortsansässigen Zeitung könnte zum Beispiel interessante Tipps geben. Oder man wendet sich an ein Kulturinstitut, das gute Adressen empfehlen kann. So ist es möglich, von Person zu Person durchgereicht zu werden. Man sollte mit Fragen in ein Land hineingehen. Wie kommt man denn in Großstädten am besten vom typischen Touristenpfad ab? Gerade dort ist es ja eher schwierig dem zu entgehen, weil man überall von Sehenswürdigkeiten umgeben ist.Das stimmt, man wird stets auf die touristischen Hauptpfade gebracht. Man könnte in die Vorstädte hinausfahren, um einen Vergleich zu haben oder die Stadt mit dem Fahrrad durchqueren. Das geht in Berlin zum Beispiel ganz gut.

Was halten Sie denn von den Jugendlichen, die nach dem Abitur scharenweise nach Australien aufbrechen?
Ist so eine Reise in irgendeiner Form nachhaltig, wenn sich die Erfahrungsberichte alle ähneln und man dort auch noch überwiegend deutsche Landsleute trifft?Prinzipiell finde ich es gut, dass Menschen überhaupt in die Welt hinausgehen. Ich denke auch, dass, egal wo man herumfährt, man immer Orte finden wird, wo die Leute zusammenglucken. Gerade für Jugendliche hat das Unter-sich-Sein und eine alternative Welt auszubilden wohl eine große Faszination. Ob das in Berlin Kreuzberg stattfindet oder in Goa, es hat die gleiche Struktur. Bei den Work-and-Travel-Australienreisenden geht der Gedanke wohl eher dahin, dass das Land Verdienstmöglichkeiten bietet, die es woanders so nicht gibt. Der Reiz könnte auch darin liegen, einmal ans Ende der Welt zu fahren. Reisen muss man auch lernen und das ist mit einem Reifeprozess verbunden.

Was meinen Sie genau mit dem Reisen-Lernen?
Überhaupt erst auf Suche zu gehen und sich nicht von Hochglanzprospekten leiten zu lassen. Das Reisen setzt die eigene Person, die Biografie und Interessen in das Verhältnis zu einem unbekannten Land oder Aufenthalt. Die Frage danach ist, ob man für sich das Passende gefunden hat. Unterwegssein bedeutet auch, dass wir nach unentdeckten Möglichkeiten in uns selbst suchen.

Muss man dazu zwangsläufig in exotische Länder fahren?
Nein. Es kann genauso eine Bergwanderung oder eben die Nordsee sein, die uns neue Facetten an uns selbst aufzeigt. Das meine ich mit dem Lernen, dass wir in die Möglichkeit unserer Selbst hineinwachsen und uns inspirieren lassen durch das „Woanders sein“.

Würden Sie eher spontanes oder organisiertes Reisen empfehlen?
Beides hat seinen Reiz. Als wichtig empfinde ich, sich in einem Fluss treiben zu lassen, den man nicht mitbestimmt. Wir wollen unser Leben ja immer gern kontrollieren und das Bild von morgen im Blick haben. Reisen kann eine schöne Einübung in das Ungewisse sein und vielleicht kann man dabei eine besondere Daseinswürze erfahren. Geplante Reisen bieten wieder ganz andere Möglichkeiten. Man kann sich auf das Land vorbereiten, vorher schon Kontakte knüpfen.

Um noch mal auf das Thema Abenteuer zu kommen: Was war denn das Abenteuerlichste, das Ihnen in letzter Zeit auf Reisen passiert ist?
Vor einigen Jahren war ich bei den Quellen des Ganges in Indien. In 3.700 Metern Höhe besuchte ich eine Tempel Puta. Dort gab es diesen Raum, der vielleicht acht mal acht Meter groß war. Da standen circa 200 Menschen, die sich in Trance über einen Stein warfen, um dem Gott Shiva zu huldigen. Der Stein war mit Butter und Milch beschmiert, der Raum nur mit Kerzen und Fackeln beleuchtet. Man schob mich dann wieder hinaus und ich hatte das Gefühl, in einem völlig neuen Universum gelandet zu sein. Das war mein tiefstes Erlebnis bezüglich Fremdheit und Andersartigkeit.

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