Im Abseits

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Armut nebenan – ein Besuch der Jenaer Tafel

Von Marietta Kahle

Online-Tafel
Foto: Marietta Kahle

Richtung Paradies“ – unfreiwillig unpassender könnte die Antwort eines Passanten auf die Frage, wie ich zur Jenaer Tafel komme, kaum sein. Es ist ein ungemütlicher, grauer Novembertag, die Luft ist eisig, feiner Nieselregen durchnässt die Kleidung schon nach wenigen Gehminuten. Die Seidelstraße 21 liegt direkt neben dem Institut für Sportwissenschaft, einem imposanten, villenartigen Bau mit ausgedehnten Grünflächen. Ein Nebeneinander der Kontraste: dort Mittagessen in der Mensa, direkt benachbart die Jenaer Armentafel. Fast übersieht man das kleine quadratische Gebäude, grau verputzt und eingeklemmt zwischen Institut und der stark befahrenen Stadtrodaer Straße.

Beherztes Ehrenamt

Durch ein grünes Eisentor gelangt man auf das nicht asphaltierte Grundstück, wo sich wegen des Regens schlammige Pfützen gebildet haben. Rechts rauschen der Verkehr und die Straßenbahn vorbei. Bananenkisten und leere Pappkartons stapeln sich unter einem Vordach, ein Sack mit Brötchen liegt auf einer Ablage. Die Fenster im Erdgeschoss sind vergittert und durch Neonröhren grell erleuchtet. Kein Mensch ist zu sehen.

Im blau-gelb gestrichenen Treppenhaus riecht es nach Mittagessen, Kleidersäcke stehen neben dem Treppenabsatz. Jürgen Bromme, Vorsitzender des Vereins Jenaer Tafel, bittet in sein Büro, das den Blick durch eine Häkelgardine auf die Schnellstraße freigibt. Er ist einer von etwa 70 Mitarbeitern, die dafür sorgen, dass bedürftige Menschen täglich mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt werden können. Der Großteil des Teams arbeitet ehrenamtlich; so auch Bromme, der seit seiner Pensionierung jeden Tag acht bis neun Stunden lang Termine koordiniert, sich um die Öffentlichkeitsarbeit kümmert, die Logistik organisiert, Finanzen prüft und nebenbei immer ein offenes Ohr für die Sorgen der Mitarbeiter und der Bedürftigen hat. Besonders die Öffentlichkeitsarbeit liegt ihm am Herzen, da sich der Verein hauptsächlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge finanziert. Die Sponsoren, Groß- und Supermärkte, aber auch Einzelhändler, stellen Lebensmittel zur Verfügung, die am Ende des Tages übrig bleiben oder nicht mehr lange haltbar sind.

Wir geben jedoch nur Ware aus, die einwandfrei ist“, betont Bromme, auch in Bezug auf die Kleidung: „Das schauen wir uns ganz genau an. Wenn’s sein muss, waschen und bügeln wir die Kleider vor der Ausgabe sogar. Zudem beschäftigen wir eine Näherin, die kleinere Makel vorher ausbessert“.

Da die Mitarbeiter der Jenaer Tafel die Ware vor Ort abholen müssen, wird meist ein Tourenplan entworfen, um die Transportkosten so gering wie möglich zu halten. Besonders stolz ist Bromme auf das Kühlfahrzeug, das der Verein gerade erst durch Spenden erwerben konnte. Problematisch hingegen sei die mangelnde Lagerfläche in der Seidelstraße, nicht nur bezüglich der Lebensmittel, sondern auch wegen der Kleiderkammer. Der geplante Umzug der Jenaer Tafel in ein deutlich größeres Gebäude in Lobeda-West ist daher für Bromme ein Segen. In der ehemaligen Kindertagesstätte in der Werner-Seelenbinder-Straße soll ein Tafelhaus mit Lebensmittelausgabe, Tafelküche, Gastraum, Kleiderkammer und Verwaltung entstehen, das über vier Kühlräume statt momentan nur einen einzigen verfügen wird. Darüber hinaus sind auch ein Möbellager und eine Möbelwerkstatt geplant – „dafür müssen wir aber erstmal Spenden für einen LKW zusammenkriegen“, sagt Bromme. Man merkt, wie sehr ihm seine Arbeit am Herzen liegt, und er bestätigt: „Ich brauche das, eine Aufgabe, diese Hektik. In Rente gehen, nur zu Hause sitzen und die Hände in den Schoß legen, das könnte ich nicht. Ich bin harte Arbeit gewohnt.“ Wie auf sein Stichwort wird es hektisch, alle wollen zu ihm: der Postbote, die Sekretärin, dann ein Mitarbeiter, da es ein Problem mit der Kaffeeware gibt – Bromme nimmt sich Zeit für alle. Unten im Hof fahren zeitgleich die Transporter mit den Lebensmitteln ein, um 15 Uhr beginnt die Lebensmittelausgabe. Bleibt gerade noch Zeit für eine kurze Pause in der Jenaer Tafelstube, wo es zu Mensa-ähnlichen Preisen Frühstück, Mittagessen und Kaffee gibt. An einem der Tische sitzen bereits einige Mitarbeiter, die Atmosphäre ist gut, es wird noch schnell ein Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht, dann geht es los.

Lange Warteschlangen für Bedürftige

Während es in der Kleiderkammer noch recht ruhig zugeht, stehen an der Lebensmitteltheke draußen im Hof bereits die ersten Menschen Schlange. Oft gibt es Gedränge und Streit um die ersten Plätze, weshalb die meisten zu früh kommen. Mit Koffertrollis, Einkaufscaddys, Rucksäcken und Sporttaschen drängen sich die Menschen um den Tresen. Jeder, der sich hier Lebensmittel abholt, muss seinen „Tafelpass“ vorzeigen, auf dem genau vermerkt ist, für wie viele Personen ihm Lebensmittel zustehen und an welchem Wochentag er kommen darf. Jedoch erhält nicht jeder Bedürftige, der bei der Jenaer Tafel anfragt, auch einen solchen Pass, die Wartelisten sind lang. „Es ist schwer, jemanden abzuweisen“, seufzt Bromme, der zusammen mit seinen Mitarbeitern die vielen Anfragen überprüft. „Eigentlich ist jeder, der Hartz IV empfängt, bedürftig. Aber wir haben einfach nicht die Kapazität, alle aufzunehmen.“ Rund 900 Bedürftige besitzen momentan einen der begehrten Tafelpässe, den Großteil stellen Hartz-IV-Empfänger und Rentner, allein erziehende Mütter und Migranten. Montags und freitags gibt es aufgrund des Wochenendes besonders viele Lebensmittel, sodass an diesen Tagen vor allem die Großfamilien versorgt werden, einige von ihnen mit bis zu zehn Kindern. Seit der Einführung von Hartz IV ist die Zahl der Anfragen drastisch gestiegen.

Die Scham arm zu sein

Heute sind vor allem ältere Menschen zu sehen, „aber das Publikum ist sehr gemischt“, meint Bromme. Gut ein Viertel der Bedürftigen sind Kinder und Jugendliche. Jedoch sei bei ihnen die Scham, hierher zu kommen, besonders groß: „Meist kommen nur die Eltern“, erzählt Bromme, „und wenn die Kinder sich doch trauen, so verstauen sie die Lebensmittel in großen Sporttaschen, damit man in der Straßenbahn nicht sieht, dass sie gerade bei der Jenaer Tafel waren“.

Die Mitarbeiter hinter dem Tresen sind schnell und geübt. Der vorgezeigte Pass wird kontrolliert, dann wird auf einer Liste abgehakt, wer da war, die Taschen und Caddys werden über den Tresen gereicht und bis an den Rand mit Lebensmitteln gefüllt: Gemüse und Obst, vor allem aber Konserven und Eingeschweißtes, aus Hygienegründen kein Fleisch, keine frische Wurst, nichts schnell Verderbliches.

Eine andere Welt

Irina, eine von den ehrenamtlichen Helferinnen, geschätzt noch keine dreißig, hat selbst zwei kleine Kinder. Sie mache die Arbeit gern, sagt sie, während sie Lidl-Tüten mit Brotware füllt. „Nur manchmal ärgere ich mich, wenn die Leute undankbar sind, sich vordrängeln, die Mitarbeiter anschreien, da sie sich ungerecht behandelt fühlen. Oder sich nur die Rosinen herauspicken, also die Lindt-Pralinen nehmen, aber nicht die bereits etwas braunen Bananen wollen. Dann frage ich mich: Wie bedürftig ist jemand, der so wählerisch ist?“

Die Menschen, die heute hier Schlange stehen, sehen nicht so aus, als ob sie zum Spaß hier sind. Geduldig warten sie, schieben sich langsam vorwärts mit ihren Tüten und Koffern. Ein älterer Herr mit russischem Akzent nimmt seinen bis oben mit Lebensmitteln gefüllten Caddy entgegen, bedankt sich mehrmals, hakt seine Frau unter und verlässt schnell das Grundstück. Ein kleines Mädchen mit einer leuchtend roten Zipfelmütze drückt mit seligen Augen eine Tafel Schokolade an sich. Ein junger Mann schultert seine Sporttasche und eilt Richtung Straßenbahn.

Vor dem Institut für Sportwissenschaft stehen ein paar Studenten und rauchen. Sie nehmen die schwer mit Tüten und Taschen bepackten Menschen, die von nebenan kommen und an ihnen vorbeigehen, kaum wahr. Es ist eine Parallelwelt, jenseits des „Paradieses“, die mit dem eigenen Leben wenig zu tun hat.

Die Jenaer Tafel ist dankbar für jedes neue Mitglied und jede Spende. Weitere Informationen findet ihr im Internet unter www.jenaertafel.de. Am 10. Dezember veranstaltet die Jenaer Tafel in der Goethe-Galerie im „tegut“ die Aktion „Zeig Herz, kauf eins mehr“.

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