Vom Ferkel zum Schwein

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Schwein Ferkel





Die Gründungsgeschichte des Akrützels

Von Isabel Schlegel und Ulrike Schiefelbein

Vierzig Semester Wiedervereinigung, zwanzig Jahre Akrützel. Der Zusammenhang ist „weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich“, wie es bei Böll so schön heißt. Die rasante politische Entwicklung des Jahres 1989 verlangte und ermöglichte eine öffentliche Auseinandersetzung mit der DDR. In Jena lässt sich dies anhand der Entstehung des Akrützels im kleineren Rahmen sehr gut nachvollziehen: 800 Studenten diskutierten im Oktober 1989 in der Aula des UHG unter dem Motto „Mut statt Wut“, wie eine bessere Gesellschaft erreicht werden könnte. Bei dieser Vollversammlung entschied man auch, eine eigene Studentenzeitung zu fordern.

Unabhängig sollte diese neue Zeitung werden: unabhängig von ideologischen Worthülsen und verengten Inhalten, von sozialistischen Dogmen und journalistischen Konventionen. Natürlich war man politisch. Nur wollte man es ohne Partei- oder Programmzwang sein und setzte deshalb vor allem auf satirische, subjektiv-kritische und unterhaltende Artikel. Der individualistische Freiheitsanspruch ging so weit, dass von einigen schon das Redigieren, also Überarbeiten von Texten, als Zensur empfunden wurde. Erst nach langen Diskussionen konnte man sich darauf einigen, Patzer auszubessern, solange die Schreibenden einverstanden waren. Eine Entscheiduhng, über die der hoitige Lehser ser vroh sein kan.

„Hoppel“ wird erster Chef

Bei informellen Treffen in Cafés und Kneipen vor der offiziellen Gründung der Unizeitung kamen sich die Schreiberlinge näher und persönliche Freundschaften entstanden. „Hoppel“, mit bürgerlichem Namen Kai-Uwe Haase, wurde zum ersten hauptamtlichen Redakteur gewählt. Der Stura finanzierte dem Chefredakteur des Zeitungsprojekts schließlich ein Stipendium.
Im Frühjahr 1990 erschien dann ein Akrützel. – „Akrützel“? Die Hintergründe dieses Namens sind ein gut gehütetes Geheimnis. Jedenfalls unterstreicht der Name den etwas selbstironischen und ideologiefreien Anspruch der damaligen Redakteure; hatte man doch den ursprünglich vereinbarten Titel „aufRecht“ abgelehnt, um stattdessen mit dem bedeutungsfreien „Akrützel“ den Kreativitäts- und Freiheitskonsens des Blattes zu konturieren.
Der allererste Artikel des Akrützel betrachtet den Wendeprozess. In diesem Kommentar wird das vorschnelle, unreflektierte und teilweise bigotte Überwinden der DDR-Vergangenheit ebenso kritisiert wie das bedingungslose Hinwenden zur BRD und das blinde Streben nach einem verfehlten deutschen Nationalbewusstsein. Tatsächlich war der Umgang mit der Vergangenheit ein sehr präsentes Thema im Akrützel der darauffolgenden Jahre. Die satirische Zeichnung eines kopulierenden Paares illustriert den allerersten Artikel. Dabei ist der Körper des Mannes wie die politischen Grenzen der damaligen BRD geformt, während die Frau in die Staatsgrenzen der ehemaligen DDR gesteckt wurde und eher einem genüsslich saugenden Baby ähnelt – „Kommt‘s?“
Die ersten sechs Ausgaben erschienen mit dem Untertitel „Zentralorgan für alle, die es nicht besser verdienen.“ Unverkennbar ist „Zentralorgan“ hier als ironische Anspielung auf die mechanisierende Sprache der DDR und die ähnlich lautenden sozialistischen Verbandszeitschriften zu verstehen.

„Für alle, die es nicht besser verdienen“

Das „es“ im Untertitel ist kleiner gedruckt und zwischen die Hinterbeine des Akrützel-Schweins geklemmt, sodass es leicht überlesen werden kann und soll. Auch der Kapitalismus mit seinen ungleichen Besitzverhältnissen wird hier kritisiert. Außerdem zierten lange Zeit Däumchen drehende Hände vor dem Hintergrund einer FDJ-Fahne das Titelblatt – eine spöttische Anspielung auf die sozialistische Arbeitsdoktrin und den Händedruck des SED-Symbols.
Einer der prägendsten Charaktere des Akrützel war Karikaturist Bernd Zeller: Seine Art, Informationen auf satirisch-schräge Weise zu vermitteln, hob sich radikal vom Bestehenden in der DDR ab. Beim Akrützel sollte man „alles mal aus einer ungewohnten Perspektive“ betrachten, wie er seine Ziele 1990 zusammenfasste. Denn „die Mächtigen haben eher Angst, als komisch denn als Verbrecher zu gelten“.
Zeller war auch für die Aufmachung des Akrützel verantwortlich. Sein Layoutprogramm? Bleistiftlinien und Flüssigkleber. Die Artikel wurden in eine Schreibmaschine gehämmert, ausgeschnitten und auf Papierbögen geklebt. Die Karikaturen zeichnete er dann direkt in die freien Flächen. Auch die Überschriften kalligraphierte er per Hand und mit Tusche. Anschließend wurde die Vorlage auf ein paar hundert Ausgaben vervielfältigt.
Obwohl das Akrützel nur vier Seiten umfasste, dauerte allein das Kopieren zwei Wochen: In dieser aufregenden Zeit wollten so viele ihre Meinung publizieren, dass die Copyshops völlig überlastet waren. Für 50 Pfennige (genauso viel wie der Wachtturm) wurden die fertigen Akrützel-Ausgaben dann vor der Mensa, auf Versammlungen, in Cafés oder Kneipen verkauft.
Dabei kam es schon mal vor, dass unzufriedene Käufer den Akrützel-Stand wütend umstießen, weil ihnen etwa Karikaturen zu „frauenfeindlich“ erschienen. Auch sonst war das Verhältnis zwischen Schreibern und Lesern eher persönlich: Man kannte einander.
Die ersten Redakteure waren in der Regel Studenten, die sich auch sonst hochschulpolitisch austobten und beispielsweise den Stura mitgründeten. Trotzdem sollte das Akrützel nie ideologisches Kampfblatt, sondern „Kommunikationsmedium von und für Studenten, und wenn politisch, dann informativ und unabhängig“ sein, wie schon in der dritten Ausgabe klargestellt wurde.

Die kleine Akrützelwelt

Die Akrützelwelt der ersten Jahre war klein und heimelig, es traten immer wieder dieselben Namen in Erscheinung – gerne in einer Doppelrolle als Autor des einen Artikels und Interviewpartner im nächsten. Journalistische Professionalität war nicht so wichtig, stattdessen boten die ersten Ausgaben ein buntes Sammelsurium persönlicher Ansichten und völlig unterschiedlicher Blickwinkel, oft vorgetragen mit einem ironischen Augenzwinkern. Dieses kreative Chaos machte den besonderen Charme des Blättchens aus.
Die monumentale Bedeutung des Akrützel für die Weltgeschichte war bereits den Gründervätern bewusst. In weiser Voraussicht wurden – Selbstironie hin oder her – die ersten Jahre des eigenen Schaffens per Video, in Tagebuchaufzeichnungen und in einer Diplomarbeit akribisch für die Nachwelt festgehalten.




Foto: Die Wende-Karikatur von Bernd Zeller im allerersten Akrützel von 1990.

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