Tatendrang und Alltagssorgen

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Die Geschichte des Jenaer Studentenrats

Von Janina Rottmann

Foto: ThürAZ

Viele der heutigen Studenten glauben, Studentenrat sei ein verwirrender Haufen von Bürokraten, der seine Daseinsberechtigung durch die Bewilligung von Finanzanträgen erlangt. Vor 20 Jahren allerdings legitimierten ihn zwei Drittel der Studenten mit einer Zustimmung von knapp 90 Prozent. Dass der Stura einmal solch demokratische Begeisterung auslöste, wissen die wenigsten. Entstanden im Strudel der Geschehnisse der Wendezeit geht sein Bestehen besonders auf die dynamischen Ideen einzelner Studenten der FSU zurück.
Herbst 1989: Die Ereignisse in der Welt überschlagen sich und kaum jemand bleibt unberührt ob der täglich neuen Nachrichten. Mit dem Beginn der Protestwellen und der Montagsdemonstrationen in Leipzig erreicht der unüberhörbare Lärm einer bröckelnden DDR auch die Jenaer Universität.

Ein kleiner Kreis von Engagierten

Unter dem Eindruck der politischen Veränderungen trifft sich immer häufiger ein Stammtisch von vier bis zehn befreundeten Studenten, um über Protestaktionen zu beraten. Einige unter ihnen sind bereits in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) als Funktionäre aktiv, um von der Basis aus mit demokratischen Reformen Einfluss auf die Hochschulpolitik zu nehmen. Um dem merklich wachsenden Diskussionsbedarf unter Studenten und Bürgern Raum zu geben, organisieren sie nach mehreren Aktionen am 19. Oktober 1989 unter dem Motto „Mut statt Wut“ ein öffentliches Plenum. Ziele sind eine gemeinsame Diskussion über die Situation in der DDR und die Planung neuer Proteste. Dem Aufruf zu der freien Veranstaltung „Reformhaus“ folgen etwa 800 Menschen in die Aula. Etwas chaotisch, aber mit Begeisterung diskutieren die Aktivisten in verschiedenen Arbeitsgruppen stundenlang über die Zukunft der Universität und die aktuellen Ereignisse. „Der Tatendrang dieser Studenten speiste sich primär aus der Wahrnehmung der großen Politik“, sagt Robert Gramsch, Historiker an der Uni Jena und Leiter eines Buchprojekts über die Studentengeschichte zur Wendezeit. Bei dem Plenum nimmt auch das Konzept einer Studentenzeitung Form an, mit der ein Artikulationsmedium geschaffen werden soll. In diesen Tagen geht von jenem recht kleinen Kreis engagierter Individualisten ein solcher Tatendrang aus, dass er innerhalb kurzer Zeit fast auf die gesamte Studentenschaft überschwappt. Und in dem Projekt kommt schließlich die Idee einer unabhängigen und demokratischen Interessenvertretung in Form eines Rätemodells auf. Selbstorganisatorisch und so transparent wie möglich soll sie sein statt ferngesteuert und SED-konform. Nachdem einige Arbeitsgruppen des „Reformhauses“ das Konzept eines solchen Modells entworfen haben und die rechtlichen Barrieren überwunden sind, stimmen in einer Urabstimmung Mitte November knapp 90 Prozent der Studenten für das Studentenratsmodell. Auf einer zweiten „Reformhaus“-Sitzung am 23. November konstituiert sich dann der erste Studentenrat. Die FDJ verschwindet bald darauf nach einer gezielten Aktion der Aktivisten von der Bildfläche: Am 29. November lassen sich einige Reformer in die Jugendorganisation wählen, mit dem einzigen Ziel, diese kurz darauf aufzulösen. Die neue Interessenvertretung hat ein klares inhaltliches Programm: Der Fokus liegt auf Studienfinanzierung, Wohnraum und Abschaffung des durchstrukturierten Studiensystems nach getrennten Seminargruppen. Die Wahlen finden geheim statt und nur Einzelbewerbungen sind möglich. In den ersten Stura-Sitzungen des neuen Jahres unterstützt die Interessenvertretung ganz besonders das Zeitungsprojekt, das bald darauf „Akrützel“ getauft wird: Sie beantragt ein Universitätsstipendium für den Chefredakteur und stellt finanzielle Mittel zur Verfügung. Außerdem arbeiten Stura und „Akrützel“ seit Anfang 1990 im gleichen Raum im UHG und teilen sich bis 2004 einen Bürokomplex.

Neue Probleme im neuen Jahrzehnt

In der gesamten Studentenschaft findet indes um die Jahreswende 1989/90 ein rascher Wandel statt. Vielen ist das persönliche Vorankommen zusehends wichtiger als die Reformen. Nach Monaten der Zusammenarbeit erlischt der Tatendrang umso stärker, je deutlicher sich die deutsche Einheit abzeichnet. Die Politik wird wieder den Politikern überlassen. Und besonders für Geisteswissenschaftler bestimmen bald andere Fragen den Alltag: Wird es das eigene Fach auch weiterhin geben? Bleiben die eigenen Professoren angestellt oder werden sie entlassen? Tatsächlich steht die Alma Mater im neuen Jahrzehnt vor einem Berg an Problemen: in Westdeutschland nicht anerkannte Abschlüsse, eine veraltete Struktur und die offensichtliche Gefahr, nun einen Großteil der Studenten zu verlieren. Ein Reformerkreis von Professoren und Dozenten übernimmt diese Aufgaben der Umstrukturierung, doch die Stura-Aktivisten beharren auf studentischer Mitbestimmung auch in den Abwicklungsgremien.
So prägt ein Schwebezustand insbesondere wegen personeller Umwälzungen diese Periode bis 1994. Studiengänge werden abgeschafft, Sektionen in Fakultäten verwandelt, ein neuer Rektor wird gewählt und eine Evaluierung der Lehrenden durchgeführt. Stura und „Akrützel“ versuchen, die allgemeine Unsicherheit zu zerstreuen und immer wieder aufzuklären: 1991 kämpfen sie für ein Konzil, auf dem sie später dem Rektor ihr Misstrauen aussprechen. Man bemängelt Fehlentscheidungen beim Abwicklungsprozess, Kritiklosigkeit gegenüber dem Kultusministerium und die Tatsache, dass man den Studenten ungern Kompetenzen überträgt.
Zu diesem Zeitpunkt ist der Rückhalt des Studentenrats in der studentischen Masse allerdings wieder geschrumpft. Die Wahl von Delegierten entbindet von aktiver Teilhabe und viele merken, dass langfristige Veränderungen an der Hochschule sie ohnehin nicht mehr betreffen würden. Die meisten klären ihre Probleme lieber auf eigene Faust. In einer Wohnungsaktion des Sturas 1993, bei der Studenten auf die katastrophale Wohnungsnot aufmerksam machen, wird auf dem Eichplatz ein Zeltlager errichtet. Die Unterstützung der Studentenschaft scheint verschwunden zu sein, denn die Aktion lockt nur wenige Teilnehmer an.
Im selben Jahr jedoch gelingt nach Verhandlungen mit dem Studentenwerk und der Jenaer Nahverkehrsgesellschaft in einer Urabstimmung die Einführung des Semestertickets. Die TheaterOFFensive im darauffolgenden Jahr wird ebenfalls zu einem Erfolg. Seitdem ist Laientheater von und für Studenten wieder Tradition in Jena. Ebenfalls 1994 gründen Studentenrat, Studentenwerk und Rosenkeller einen Fonds, um kulturelle Veranstaltungen zu fördern.

Generationenwechsel

Mitte der neunziger Jahre lässt sich dann ein Generationenwechsel innerhalb der Studentenvertretung und auch beim Akrützel feststellen. Die Aktiven der Wendezeit verlassen die Universität, während sich die neue Generation wachsenden Studentenzahlen stellt und versucht, ihre Arbeit zu professionalisieren. Stura-Arbeit als berufsvorbereitende Erfahrung späterer Lokal- oder Bundespolitiker wird gang und gäbe. Spätestens seit 1995/96 prägt die Studentenvertretung ein hohes Maß an formaler Korrektheit. Nach der Einführung des Semesterbeitrags verfügt sie zudem über einen nicht geringen Haushalt, während dieser sich bis dato aus Rücklagen der FDJ und Geldern der Uni zusammensetzte. Die Gelderverteilung und deren ordnungsgemäße Protokollierung werden somit zur Hauptaufgabe – gleichzeitig ermöglicht der Semesterbeitrag ab 1995 auch, dass das „Akrützel“ kostenlos verteilt werden kann, das bis dahin 50 Pfennig kostete.

Kampf gegen Zweitwohnsitzsteuer

Im neuen Jahrtausend bestimmt dann die geplante Einführung der Zweitwohnsitzsteuer die Diskussion und treibt 2003 viele Studentenvertreter auf die Barrikaden. Das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Stura und Stadt ist eine Art Abkommen: Motiviert der Stura bis Jahresmitte 2.500 Studenten zu einer Anmeldung des Hauptwohnsitzes, dann unterlässt die Stadt die Erhebung der Steuer. Es melden schließlich 3.100 ihren Hauptwohnsitz an. Seitdem gehören Werbekampagnen wie die diesjährige „Las Jenas“ zur Standarddeko der Stadt. In den nächsten zwei Jahren gibt es die erste Cinebeats-Party, Pullis und T-Shirts mit Hanfried-Logos werden verkauft und das Campusradio bekommt nach seinem ersten Geburtstag ein neues Studio. Nicht zuletzt sind es ebenfalls Stura-Mitglieder, die zahlreich für die Studentenproteste in Leipzig und Erfurt gegen Bildungsabbau und Bologna-Reform mobilisieren, in Jena eine Alternativ-Uni auf die Beine stellen und 2007 zum Boykott gegen die Verwaltungsgebühr aufrufen.
Im Jahre 2005 erarbeiten Stura-Mitglieder eine neue Satzung samt Wahlordnung, die auf die Demokratiebewegung der 89er-Generation verweisen soll. Seitdem verursacht diese Geschäftsordnung jedoch Probleme, weil kaum einer der Delegierten ihren genauen Inhalt kennt.
Die Studentenvertretung hat in ihrer 20 Jahre währenden Entwicklung ambitionierte Projekte angeregt und umgesetzt. Dies zeigte zuletzt auch der vom Stura organisierte Bildungsstreik im Sommer. Dessen Aktionen erreichten ungewohnte Resonanz unter Schülern und Studenten. Und so manch einen erinnerten sie sogar ein wenig an die Studentendemonstrationen im Herbst 1989.

Wandzeitung in der alten „Turmmensa“. Foto: ThürAZ

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