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Die Zeiten des entspannten und sorglosen Studierens sind vorbei – ein fiktiver Lebenslauf

Von Christian Fleige, Philipp Böhm und Johannes Wander

Immer in Eile – der moderne Student.
Foto: Katharina Schmidt

“Hässlich!“, das war H.s erster Gedanke, als er vor gut drei Jahren die Ausläufer Jenas zum ersten Mal von der A4 aus sah. „Scheiß Betonklötze!“, und überhaupt nicht wie die Heimat, die laut Kilometeranzeige im Armaturenbrett schon mehr als 400 Kilometer hinter ihm lag. Er hatte damals eine Vielzahl von Angeboten verglichen und sich schließlich für ein Magisterstudium an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena entschieden. Das erkämpfte Einser-Abitur nach der zwölften Klasse sollte nur der Anfang seiner Karriere sein. Er ließ seine Familie, seinen Freundeskreis und auch seine langjährige Freundin zurück, die gerade eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin begonnen hatte. Doch er bewies Mobilität und Flexibilität. Er vollbrachte die Opfer, die die heutige Gesellschaft forderte.
Laut Stephan Lessenich vom Institut für Soziologie kommen solche Opfer aber nur selten überraschend, da sowohl in der frühkindlichen Entwicklung als auch in der Schule auf das Wettbewerbsparadigma vorbereitet werde. „Das ‚,Turboabitur‘ ist nur ein Beispiel für diesen auf Beschleunigung getrimmten Prozess, denn auch der Entscheidungsdruck spielt eine große Rolle. Die Fragen ‚,Bin ich hier richtig?‘, ‚,Wo will ich hin?‘ und ‚,Was muss ich machen, um dahin zu kommen?‘ sind allgegenwärtig.“ Klaus Dörre, ebenfalls vom Institut für Soziologie, relativiert diese Ansichten im Hinblick auf das Studium: „Der Orientierungsdruck in den einzelnen Studiengängen variiert sehr, man kann in diesem Zusammenhang nicht einfach so pauschalisieren.“ Generell kann man es aber wohl mit der Dezernentin für Akademische und Studentische Angelegenheiten Eva Schmitt-Rodermund halten: „Heute gibt es eine viel größere Debatte darüber, was denn aus jungen Menschen einmal werden soll.“

Erste Opfer

H. erkannte schnell nach der Einschreibung, dass die ersten Opfer nicht die letzten bleiben sollten. Seit dem ersten Semester muss er parallel zum Studium arbeiten, damit es nicht nur vorne, sondern eben auch hinten reicht. H. kellnert. Der Job macht so weit Spaß, kostet aber Zeit, die dann an anderer Stelle fehlt. Das Lernen bleibt zwangsläufig auf der Strecke. Großer Druck und Selbstzweifel entstanden besonders dann, wenn die Kommilitonen schon in den Einführungsveranstaltungen den Eindruck erweckten, dass der schnellstmögliche Abschluss ein Muss sei. Und überhaupt, ‚„Geschwindigkeit“, das Wort lauert hinter jeder Ecke und hält einen auf Trab. Karriere-Hefte befeuern die Beschleunigung noch. Sie propagieren den makellosen Werdegang, den perfekt glatten Lebenslauf. H. kommt in solchen Momenten immer ins Grübeln. Er kennt Leute, die wirklich krank sind, die unter Depressionen leiden, einfach nicht uneingeschränkt wettbewerbsfähig sind. Was passiert mit ihnen? Sie haben den geforderten glatten Lebenslauf nicht, sondern eine Biografie mit Schleifen. Werden sie überhaupt jemals einen Job bekommen? Was, wenn ihm etwas Ähnliches passiert oder er einfach aus trivialeren Gründen Zeit und damit Qualifikationen verliert? Wenn er durch eine Klausur fällt und sein Praktikum nicht antreten kann, weil er nachschreiben muss? Es schaudert ihn.
Der Eindruck, den H. in den ersten Monaten seines Studiums gewann, ist mittlerweile ein typischer. „Studenten tanzen auf immer mehr Hochzeiten. Parallel steigen die Anforderungen, der Druck wächst, man gerät ins Rotieren“, stellt Klaus Dörre fest und scheint H.s Sicht auf die Dinge zu bestärken. Vor allem das allgegenwärtige Thema Auslandsaufenthalt macht H. Sorgen, da er keine Ahnung hat, wie er so etwas finanzieren soll. Und die Sprachen. Seine Deutschlehrerin war doch der festen Überzeugung, dass er nicht einmal seine Muttersprache beherrsche. Wie soll er da Russisch lernen? Die Aussage Eva Schmitt-Rodermunds, dass Auslandsaufenthalte für die zukünftigen Arbeitgeber mehr und mehr an Bedeutung gewännen, wird H.s Unsicherheit nicht gerade schmälern. Und der Euphemismus vom „lebenslangen Lernen“ macht die Sache in solchen Momenten auch nicht besser.
Diese ersten Eindrücke liegen mittlerweile fast zweieinhalb Jahre zurück und H. ist im Studium angekommen. Er hat sich einen stützenden Freundeskreis aufgebaut und auch eine neue Freundin gefunden. Die zu Beginn geführte Fernbeziehung ist der Ferne zum Opfer gefallen. Schade. Im Studium ist für ihn Halbzeit. Er studiert auf Magister und das modularisierte Grundstudium liegt hinter, die vermeintliche Freiheit des unmodularisierten Hauptstudiums vor ihm. In diesen fünf Semestern hat er viele Leute gehen sehen. H.s bester Kumpel brach das Studium ab. Der Spätjob im Kaufland wurde gut bezahlt, war aber anstrengend und nicht studienkompatibel. Und dort, wo früher fast ausschließlich Magister saßen, sitzen heute Bachelor-Studenten, die auf H. noch getriebener, noch zielstrebiger und noch emsiger wirken. Vielleicht ist dies der moderne Gang des Studiums. Vielleicht irrt er sich aber auch nur.

Alles nur Einbildung?

In dieser Vermutung der Selbsttäuschung würde Eva Schmitt-Rodermund ihn bestärken, denn für sie existiert das Problem der Doppel- und Dreifachbelastungen nicht: „Natürlich ist das Studium kürzer und durch die Regelstudienzeit schneller geworden. Aber wir können auch kein Heim für Leute sein, die ihren Platz nicht finden. Und der größte Teil des Drucks ist hausgemacht. Viele denken, dass das Studium schnell sein müsse, dass sie nicht zu alt sein dürften, wenn sie auf den Arbeitsmarkt kommen.“ Nach Kurt-Dieter Koschmieder, Prorektor für Lehre und Struktur, gibt es zwar einen Wandel, aber der ist durchaus legitim: „Wir müssen unser Studium daran ausrichten – und ich kann an dieser Stelle nur für die Wirtschaftswissenschaften sprechen –, welche Anforderungen unseren Absolventen auf ihrem Karrierehöhepunkt entgegenkommen.“ Ähnlich sieht es Stephan Lessenich: „Die Arbeitswelt ist kürzer getaktet. Unternehmen werden ,schlanker‘. Der Druck auf den einzelnen Angestellten wächst. Man könnte meinen, dass das heutige Studium perfekt darauf vorbereite. Früher war ein längeres Studium möglich.“ Das Fazit von Klaus Dörre fällt desillusionierend aus: „Die Studienzeit ist nicht mehr das schöne Leben!“ Umstritten ist, wann sie das jemals war.


Foto: Katharina Schmidt

Falsche Hoffnungen

Dieser Einsicht versucht sich H. zu verweigern. Er klammert sich an blumige Studienfantasien der Vergangenheit, die er sich irgendwo mal angelesen hat. Doch was ihm in der Mitte seines Studiums am meisten aufstößt, ist die Arbeitsmarktfixierung seiner Kommilitonen. Die Planungen laufen ständig und erstrecken sich stellenweise über die nächsten drei bis fünf Jahre. Das Phänomen Praktikum kann man, so glaubt H., mit einer Fußballweisheit erklären: „Vor dem Spiel ist nach dem Spiel“. Daran muss H. immer denken, wenn er auf Leute trifft, die ihn in fließendem Hochchinesisch begrüßen und deren Lebenslauf sich über fünf DIN- A4-Seiten erstreckt. Eine Jagd nach Trophäen, die dann doch eher selten einer Mannschaftssportart ähnelt. „Employability“ eben, denn der Arbeitgeber kann auch einen anderen einstellen.
Klaus Dörre kann die Angst vor Kettenpraktika nach einem abgeschlossenen Studium relativieren: „Die ,Generation Praktikum´ ist ein Mythos. Nur vier oder fünf Prozent der Absolventen geraten nach ihrem Studium in eine endlose Schleife aus Praktika.“ Viel schlimmer sei die Phase der prekären Beschäftigung, die sich oftmals an das Studium anschließe. Absolventen arbeiteten in befristeten und schlecht bezahlten Anstellungen, vor allem studierte Sozial- und Geisteswissenschaftler, so Dörre weiter. „Daraus resultiert wiederum die Bereitschaft, einige Abstriche zu machen, um an einen Job zu kommen.“
Die Einstellungscheckliste der Firma SCHOTT beispielsweise verschafft dem Absolventen einen ersten Eindruck von den bis zum Studienende zu erwerbenden Qualifikationen: ein guter Abschluss, persönliches Engagement, sehr gute Kommunikationsfähigkeit, Kreativität, sehr gute Englischkenntnisse, Teamfähigkeit, Eigeninitiative, Flexibilität und selbstständige Arbeitsweise. Dehnbare Begriffe, die einer Interpretation bedürfen. Sie lassen nichts Gutes erahnen und die Angst aufkommen, dem nie und nimmer gerecht zu werden. Aber in einer Lohnarbeitsgesellschaft müsse sich ein jeder am Arbeitsmarkt orientieren, so Stephan Lessenich, eine wirkliche Alternative gäbe es nicht. „Die Universität als Institution ist ganz offensichtlich nachgelagert. Steigt der Druck in der Industrie, steigt er auch im Studium.“
Für H. ist die Erkenntnis belastend: immer mehr, immer schneller, immer effektiver. Der Druck ist allgegenwärtig. Wenn er dann noch daran denkt, dass der universitäre Betrieb nur ein Teil des großen Ganzen ist, dann wird ihm meist ganz anders. Von der Gleichzeitigkeit und der Beschleunigung sind alle betroffen, auch im Alltag. Am Ende dieses Gedankenganges trifft H. auf zwei unvermeidliche Fragen: „Warum?“ und „Für wen?“

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