(Un)Therapierbar

Ende des vergangenen Semesters stellte Claas de Boer seine Forschung zu sexuellen Präferenzstörungen in Jena vor. Seine Kollegin Charlotte Gibbels präsentierte ein Hilfsprojekt für mögliche sexuelle Gewaltstraftäter.

von Sophia Jahn

Seit die coronabedingten Ausgangsbeschränkungen in Kraft getreten sind, häufen sich die Schlagzeilen über steigende Fallzahlen sexualisierter häuslicher Gewalt. Was bringt einen Menschen dazu, übergriffig zu werden und wie lässt sich das verhindern?
Damit beschäftigt sich Charlotte Gibbels. Wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, erntet sie oft ungläubige Blicke: „Wie kannst du nur mit solchen Menschen zusammenarbeiten?“ Diese Frage bekommt die Psychotherapeutin in Ausbildung sogar von Kollegen des Öfteren gestellt. Sie ist Mitarbeiterin des Projektes I can change an der Hannover Medical School, dessen Ziel es ist, sexuellen Gewalttaten vorzubeugen. Dazu können Menschen, die befürchten, einen solchen Übergriff zu begehen oder nicht wieder rückfällig werden wollen, eine freiwillige Therapie in Anspruch nehmen. Das Angebot wird anonym behandelt, ist kostenlos und die Therapeuten unterstehen der Schweigepflicht.

Anonym und kostenlos

Gibbels erzählt: „Es gab zum Beispiel einen Mann, der seit zwanzig Jahren einmal im Jahr seine Frau vergewaltigte. Als sie genug hatte und ihm drohte, ihn beim nächsten Mal umzubringen, suchte er Hilfe bei I can change.“ Recht schnell hätte sich in Gesprächen herausgestellt, dass die Übergriffe immer nachts stattfanden und die beiden in diesen Nächten immer nackt geschlafen hatten. Nun tragen sie jede Nacht einen Pyjama. „Sich selbst und seine Frau erst entkleiden zu müssen, war Hindernis genug.“ Weitere Übergriffe gab es bisher nicht. Aber natürlich sind nur die seltensten Fälle so einfach, die meisten Patienten werden jahrelang therapiert.
Die Nachfrage ist groß: „I can change ist das einzige Angebot seiner Art deutschland-, wenn nicht sogar weltweit“, sagt Gibbels. Deshalb nehmen Patienten lange Fahrtwege auf sich, um die Therapie in Anspruch nehmen zu können.

Sexuelle Gewalt kann tiefe Wunden hinterlassen.
Foto: Dominik Itzigehl

Pädophilie ist nicht gleich Kindesmissbrauch Claas de Boer arbeitet in einem anderen Feld der Sexualtherapie. Der Diplom-Psychologe ist Mitarbeiter des Präventionsnetzwerkes kein täter werden, das Therapien für Menschen mit pädophiler Präferenzstörung bietet. Diese bekommen gerade wieder vermehrt Aufmerksamkeit, weil im März ein digitales Netzwerk unter anderem zur Verbreitung von Kinderpornographie aufgedeckt wurde. Daran beteiligt hatten sich Nutzer auf der ganzen Welt. In den darauf folgenden Zeitungsartikeln werden Kinderschänder und Pädophile oft im selben Atemzug genannt.
Psychologe De Boer betont jedoch die Wichtigkeit, sich bewusst zu machen, dass Pädophilie und sexueller Kindesmissbrauch zwei unterschiedliche Dinge seien: Pädophile vergreifen sich nicht zwangsläufig an Kindern und Kindesmissbrauch wird nicht immer von Pädophilen begangen. Statistisch gesehen seien es sogar nur etwa 40% der Fälle. Studien zufolge sind zwischen 0,1 und 1 Prozent aller Männer pädophil. Zu Frauen gibt es so gut wie gar keine Forschung. Eine pädophile Präferenz kann ebenso wenig „geheilt“ werden wie Hetero- oder Homosexualität: „Das hat sich niemand ausgesucht.“, sagt de Boer. Deshalb hilft die Therapie den Patienten in erster Linie, zu lernen, mit ihrer Sexualität umzugehen, sich beispielsweise Verhaltensstrategien anzueignen, mit denen sie sexuelle Impulse gegenüber Kindern kontrollieren können.
Man wolle Übergriffe an Kindern aber keinesfalls rechtfertigen: Sexueller Missbrauch sei und bleibe ein Kapitalverbrechen, das bestraft gehöre.
Auch das Angebot von kein täter werden ist anonym, kostenlos und unterliegt der Schweigepflicht. Es wendet sich sowohl an Personen, die (noch) nicht straffällig geworden sind, als auch an Menschen, die bereits einen Missbrauch begangen haben – Konsumenten von Kinderpornographie eingeschlossen.
Auf die Frage, warum er bei kein täter werden arbeite, erklärt de Boer, dass sich das psychologische Angebot beim Thema Kindesmissbrauch bisher auf die Aufklärung potentieller Opfer beschränkt habe. Aufklärung für potentielle Täter gebe es hingegen kaum. Diese Lücke galt es zu schließen.

Allgemein

Schreibe einen Kommentar

*