Stimmen im Nebel

„Betaville“ im Kulturbahnhof

Von Janina Rottmann




Eingehüllt von der radioaktiven Wolke sind Androiden erst auf den zweiten Blick zu erkennen.Foto: Theaterhaus Jena

Es begann mit einem Krieg. In dessen Verlauf legte sich eine radioaktive Wolke um die Erde und machte sie so in großen Teilen unbewohnbar. Um zu überleben, muss die Menschheit den Mars besiedeln. Androiden, den Menschen nachgebildete Maschinen, werden ihnen dabei als Hilfe zur Seite gestellt. Diese sind lernfähig und unterscheiden sich bald weder in Intelligenz noch Aussehen von ihnen. Einzig ihre mangelnde Empathiefähigkeit hilft, sie zu erkennen.Obwohl auf der Erde verboten, leben viele von ihnen unerkannt unter den Menschen.

Dies sind die Grundzüge in Ridley Scotts Sci-Fi-Kultfilm „Blade Runner“ aus dem Jahr 1982 sowie Philipp K. Dicks Roman „Do Androids Dream of Electric Sheep?“. Das Schauspielerkollektiv „O-Team“ des Theaterhauses Jena erzählt unter der Regie von Jonas Zipf mit „Betaville“ eine neuartige Version dieser düsteren Endzeit-Geschichte. Das Besondere: Es handelt sich um ein Dunkeltheater – die Theaterversion des Klassikers wird in völliger Finsternis im Kellergewölbe des Kulturbahnhofes präsentiert.
Eine Dame vom Blindenverein („Keine Angst, ich sehe genauso wenig wie Sie!“) führt die Gäste behutsam zum Platz, denn auch auf dem Weg dorthin ist es stockfinster.
Sphärische Klänge aus einer futuristischen Zeit umhüllen die Besucher, dazwischen Nachrichtensequenzen aus „Blade Runner“. In das anfängliche Gekicher und Gewisper im Publikum beginnt jemand, von Betaville zu erzählen. Die Stadt wurde zum Zufluchtsort für Menschen, die eben nicht den Mars besiedeln wollen. Tiere und Pflanzen gelten hier als Relikte einer alten Zeit, die Verseuchungsgefahr in der schmutzigen Metropole ist allgegenwärtig.
Eine der beiden Hauptpersonen ist Rick Deckard, ein Prämienjäger. Er kennt zu Beginn nur eine Wahrheit: Androiden aufgrund ihrer Minderwertigkeit zu vernichten. Der zweite Charakter, J.R. Isidore, ist ein liebenswerter Sonderling. Als eine neue Nachbarin in dem verfallenen Hochhaus einzieht, wird er zum ersten Mal seit langem mit der Aufgabe konfrontiert, die Bekanntschaft mit jemand zu schließen. Dabei hilft ihm durchaus mal ein Stück Margarine.
Bald taucht bei beiden die Grundfrage aus Film und Buch auf: Wann ist der Mensch ein Mensch? Und was unterscheidet den Androiden noch von ihm? Die Schauspieler rasen im Wechsel zwischen den Figuren hin und her, keiner von ihnen spricht eine feste Rolle, was höchste Konzentration erfordert. Natalie Hünig, Benjamin Mährlein und Mathias Znidarec schweben während ihres flotten Zusammenspiels geräuschlos durch die Finsternis, mal erschreckend nah und dann wieder weit weg. Die Atmosphäre verdichtet sich von Minute zu Minute, die verschachtelte Geschichte rennt ihrem Ende entgegen. Plötzlich wird es hell, die Augen schmerzen. Nun umhüllt eine grüne Wolke den eigenen Körper. Im wabernden Nebel zeichnen sich gespenstisch die Umrisse der anderen Theatergäste ab, die nur Zentimeter entfernt ihr eigenes Betaville erlebt haben. Wann der Weg zurück in die Realität angetreten wird, bleibt jedem selbst überlassen. Denn niemand zeigt den Weg aus der Wolke, stattdessen überlässt man dem Zuschauer die Wahl, noch ein wenig im Dunst zu verweilen.
In „Betaville“ überzeugen die Schauspieler trotz ihrer Unsichtbarkeit. Aber es ist die eigene Fantasie, die die Schauplätze und Personen kreiert. Aufregend ist, dass in der Dunkelheit wirklich nichts vom Geschehen abzulenken vermag. So kann sich der Illusion hingegeben werden, Seite an Seite mit Deckard und Isidore die eindringliche Zukunftsvision mitzuerleben.

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