Woesinge ahoi! Paradies, Pappmachée und Party-Populismus – unter dem Motto „Wir könnens immer noch“ fand in der ehemaligen DDR-Faschingshochburg Wasungen am 18. Februar das erste Mal seit 2020 wieder ein Heidenfest statt. Tausende Karnevalsbesucher am Rand des Umzugs und des politischen Spektrums füllten das 3000-Einwohner-Städtchen und versetzten es in einen Ausnahmezustand.
von Veronika Vonderlind
Zwischen Pappmachée-verkleideten Traktoranhängern und Trommelgruppen marschieren und tanzen am 18. Februar glitzernd geschminkte Traumfänger, wuschelige Waschbären und Avatar-entlehnte Na’vi. Der aus 89 Gruppen bestehende Umzug läuft dieses Jahr zum 487. Mal durch die fachwerkhausgesäumten Straßen Wasungens, einer kleinen Stadt im Südwesten Thüringens. Obwohl der Ort normalerweise kaum Fremde anlockt, bevölkern heute etwa so viele Besucher wie Einwohner die Faschingsmeile. An den Wagen angebrachte Kanonen schießen fröhlich Papierschnipsel in die Menge und das regionale Faschingsmantra Ahoi! schießt zurück. Die Kinder lassen sich, wie im Karneval üblich, staunend und bereitwillig mit Süßkram – oder im Karneval-Sprech: „Kamellen“ – bewerfen. Ihre erwachsenen Begleiter konsumieren den nachmittäglichen Paradentrubel entweder apathisch, aber mit Hütchen, oder euphorisch alkoholisiert.
Der Zug hat keine Bremsen
Nach dem Vorbeiziehen des letzten Wagens räumen die Familien allmählich das Feld, um den meist schon schwankenden Karnevalisten den Weg zum finalen Vollrausch freizugeben. Dazu trinkt man hier Nikolaschka, eine regional bekannte Rezeptur, die Rum genießbar macht. Dieser wird als Shot nach dem Biss in eine mit Zucker und Kaffee bestreute Zitrone gekippt und schmeckt in dieser Kombination mindestens unkonventionell. Hierfür öffnen auch dieses Jahr längst geschlossene Kneipen und Lokale ihre Pforten, um nach Aschermittwoch für die nächsten Jahreszeiten wieder zu schließen. Um den Schein einer lebendigen Feierszene zu erzeugen, lassen selbst Privatpersonen Feiernde in ihr Zuhause. Bis alle Hemmungen verschwinden, trinken die Verkleideten weiter, sodass schon am späten Nachmittag die konfettibedeckten Straßen vom Gröhlen, Stolpern und von körperlichen Ausfällen dominiert werden. Vereinzelt stehen abends die großen Umzugswagen samt ihrer Gruppen derangiert herum und erscheinen ohne die Ordnung und kindliche Fröhlichkeit der Parade sehr viel weniger magisch. Die Maskerade ist verschmiert, braunes Kaffeepulver säumt die Münder und die Eisprinzessin vom Nachmittag tanzt weggetreten mit Erich Honecker zu Dance Monkey.
Geordentes Chaos
Viele der Hardcore-Narren sind über 40 und jedes Jahr in Wasungen dabei. In begrenztem Raum und begrenzter Zeit genehmigen sie sich die Illusion, völlig frei von Konventionen und Restriktionen zu sein. Genuss scheint das für viele nur mit dem Wissen zu sein, dass dieses Chaos kontrolliert ist: So wird die Stadt ab elf Uhr polizeilich abgeriegelt und das Eintreten an den Kauf eines Bändchens gebunden. Moralische Legitimation für das schwere Tagtrinken inklusive. Auch verlockend ist der Luxus, die karnevalistische Szenerie mit ihrem Müll und Schmutz nach befriedigter Feierlaune wieder verlassen zu können. So reisen die vielen Ortsfremden am Abend wieder ab. Was bleibt, ist eine fünf Zentimeter dicke Schicht aus Flaschen, Schnipseln und Kamellen auf den Straßen des wieder eingeschlafenen Wasungen, wo selbst der Bäcker nur sporadisch öffnet und ein Passant eine Alltagsattraktion ist.
Narrenfreiheit oder Montagsdemo
Gemäß der gepriesenen Narrenfreiheit soll der Diskurs an Fasching von allen Beschränkungen befreit werden: keine Tabus, alles soll sagbar sein. Zurück geht das auf das Konzept des mittelalterlichen Hofnarren, der lustig verkleidet und für seine Scherze nicht strafbar war. Somit war ihm allein das Aussprechen gewisser Wahrheiten vorbehalten. Diese Narrenfreiheit hat sich der Fasching angeeignet und mit ihm profiliert sich auch der Wasunger Karnevalsverein WCC. Politische Korrektheit ist wie das exakte Gegenteil dieser Diskursart und gilt als verpönt.
Trotz dieser traditionellen totalen Redefreiheit sind die im Umzug aufgegriffenen Themen und die entsprechenden Positionierungen überraschend homogen: Ampel, Gas, Corona, Gendern und Migration sind die zentralen Schlagwörter, die diesen Party-politischen Faschingsaustausch zusammenfassen. Ungefähr ein Viertel der Umzugsbilder lässt sich darin einordnen und positioniert sich in ihm ernüchternd erwartbar: Habeck, Baerbock und andere Ampel-Politiker schmücken im teils dilettantisch gebastelten Pappkopf-Format etliche Wagen und werden kreativ als blöd und dumm bezeichnet. Zwischen Kätzchen und Prinzessinnen trifft man auf eine Gruppe maskierter Schildträger, die in stumm-bedrückender Präsenz „Migrationskrise“ und andere populistische Schlagbegriffe präsentieren. Aus dem Zuschauerbereich klingen vereinzelt exaltierte Echos der stichwortartigen Kurzstatements. Ein Holocaust-Vergleich prangt närrisch an einem Wagen über hohe Gaspreise. Laylas Auftritte wirken da kaum noch nennenswert.
Inwieweit all das für diese traditionsbewussten Thüringer tatsächlich dem Brauch entsprechend ein witziger Ausnahmezustand ist, bleibt fraglich. Genauso wie die Frage danach, ob in der 40-tägigen Fastenzeit ein Verzicht auf Rauschzustände und emotionalisierte rechte Statements zu erwarten ist.
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