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„Integration kommt in der Debatte zu kurz“

Eberhard Hertzsch (parteilos) ist verantwortlich fürdie Unterbringung von Geflüchteten in Jena. Er ist Dezernent für Familie, Bildung und Soziales. Die Situation sei zwarangespannt, aber auchzum großen Teil
schuld der schlechten Verwaltung des Landes.

Ein Hertzsch für Geflüchtete
Foto: Johannes Vogt

Die Erstaufnahmeeinrichtungen in Thüringen sind voll. Ist Jena damit überfordert?
Wir können das leisten, was wir leisten können. Solange wir keinen Notfall haben, versuchen wir, Notunterkünfte zu vermeiden. Bisher haben wir den noch nicht. Wir melden dem Land unsere freien Plätze und bekommen dementsprechend Menschen zugeteilt.Wenn das Land uns jetzt aber einen Bus mit 55 Leuten schicken würde, kann ich nicht dafür garantieren, dass wir die Menschen unterkriegen.

Genau das drohte aber noch Anfang November: Die Erstaufnahmeein-richtungen des Landes sind voll. Deswegen wollte das Land mehr Geflüchtete auf die Kommunen verteilen. Ist das passiert?
Nein. Das Problem ist, dass das Land nicht viele Kapazitäten hat. Selbst das kleine Schleswig-Holstein hat mehr Erstaufnahmeplätze als Thüringen. Wir haben Suhl, Hermsdorf und Eisenberg. Und mehr nicht. Dass man seit der Ukrainekrise daran nichts geändert hat, fällt dem Land jetzt auf die Füße.

Wie ist denn die Stimmung in der Stadt gerade zu diesem Thema?
Die schwankt zwischen sachlich und nicht mehr sachlich. Die Unterbringung von Geflüchteten ist nur bedingt ein kommunales Thema. Letztendlich trägt der Freistaat die Verantwortung für die Aufnahme und Unterbringung. Das Land darf uns deshalb nur manche Aufgaben übertragen. Wir sind also immer davon abhängig, wieweit sich das Land selbst mit dieser Aufgabe identifiziert. In der Vergangenheit ist das häufig zu wenig gewesen.

Was gibt es da für Probleme?
Die gesamte Unterbringung wird von zwei Behörden bewerkstelligt. Das Migrationsministerium macht den gesetzlichen Rahmen und das Thüringer Innenministerium kümmert sich um die konkrete Unterbringung. Wenn sich zwei Ministerien miteinander abstimmen müssen, gibt es Missverständnisse und Reibungsflächen. Am Ende machen wir möglich, was wir möglich machen können. Aber mehr geht dann nicht. Die Stadt ist 14 Kilometer lang und vier Kilometer breit, auf dem Wohnungsmarkt haben wir einen Leerstand von unter einem Prozent. Unsere Kapazität ist also beschränkt. Ansonsten haben wir die Gemeinschaftsunterkünfte. Dort fließt aber so gut wie nichts ab.


Wir werden immer wieder dafür kritisiert, dass wir viele Leute in Gemeinschafts-unterkünften haben und sie nicht in Wohnungen bringen. Aber die Leute fühlen sich dort wohl, fast ein bisschen zu wohl. Sie haben dort möglicherweise Freunde aus dem eigenen Land. Und es gibt Sozialarbeiter, die sich regelmäßig um sie kümmern. Außerdem gibt es kaum freie Wohnungen. Selbst wenn sie aus den Gemeinschaftsunterkünften rauswollten, gibt es keinen Platz, sie unterzubringen.

Würde es die Sache entspannen, wenn man Geflüchtete, die ziemlich sicher Asyl in Deutschland bekommen, mehr Freiheit zugestehen würde? So wie man es mit Geflüchteten aus der Ukraine gemacht hat.
Damals 2022 sind sehr viele Menschen in einem relativ kurzen Zeitraum gekommen. In Jena haben wir fast zweieinhalb-tausend Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Viele davon sind in eigenen Wohnungen untergekommen oder wurden von Jenaern privat aufgenommen. Dafür sind wir als Stadt sehr dankbar. Ohne diese Hilfe hätten wir das nicht geschafft.
Aber es hilft den Leuten, erstmal in einer Gemeinschaftsunterkunft unterzukommen. Sie müssen erstmal hier ankommen und das Leben in Deutschland kennenlernen. Wenn man Leute hier integrieren will, muss man sie auch da abholen, wo sie sind. Man kann nicht erwarten, dass sie schon auf dem Level sind, das wir hier normalerweise haben. Das geht nicht von heute auf morgen.

Hat man seit 2015 unterschätzt, wie viele Menschen man unterbringen muss?
Damals haben wir unter anderem Container gemietet, wie zum Beispiel die auf dem Gries. Dort sind die Mietverträge aber irgendwann ausgelaufen und es kamen keine Geflüchteten mehr. Dann gab es natürlich auch keinen Grund, den Mietvertrag zu verlängern, und wir haben die Container wieder abgebaut. Das Problem ist, dass man daran kurzfristig nichts ändern kann. Wenn man jetzt auf dem Markt Container bestellt, bekommt man sie in einem DreiviertelJahr. Das hätte man also schon im April machen müssen. Da braucht man sich jetzt nicht wundern, dass es im November, wenn erfahrungsgemäß viele Geflüchtete kommen, keine Container gibt. Man muss vorbeugend handeln. Das macht das Land einfach zu wenig. Im Moment haben wir zum Beispiel das Problem, dass wir nicht wissen, was im Jahr 2024 passiert. Die Programme von Bund und Land gehen alle nur bis Ende 2023.

Ist der Zuzug durch Geflüchtete und Migrant:innen auch eine Chance? Deutschland hat ja einen enormen Fachkräftemangel.

Ohne die Menschen, die 2015 zu uns gekommen sind, wären wir schon lange keine Großstadt mehr. Jena wäre unter die 100.00 und Thüringen unter die 2 Millionen Einwohner abgerutscht.
Das ist natürlich auf der einen Seite eine Chance. Man muss den Leuten aber auch Zeit lassen. Integration, ist ein Prozess, der lange dauert und begleitete werden muss. Viele, die 2015 kamen, sind heute gut integriert. Diese Chance sollten wir nutzen, damit sie in unserer Gesellschaft ankommen, Nachbarn werden, Arbeitskollegen und damit zu unserer Gesellschaft gehören. Integration kommt in der Debatte viel zu kurz.

Wenn man sich die Debatte auf Bundesebene anschaut, geht es vor allem um Verschärfungen, irreguläre Migration und Abschiebungen. Ist das zielführend?
Es gibt die große Gruppe, die wahrscheinlich hier bleiben kann, und dann wird sehr groß debattiert über eine sehr kleine Gruppe, die man vielleicht abschieben könnte. In Jena gab es seit 2015 nicht mal 50 Abschiebungen. Das Thema spielt also bei uns eine untergeordnete Rolle.
In einem Punkt spielt es aber doch eine Rolle. Bei Menschen, die aus relativ sicheren Staaten kommen, zum Beispiel Moldawien, Westbalkanstaaten oder Georgien. Da könnte ich mir eine Entlastung vorstellen. Dafür müsste man mit den Ländern reden, damit sie ihre Leute auch wieder zurücknehmen.

Hat sich etwas an Ihrer Arbeit verändert seit 2015?
Auf jeden Fall ist das Engagement zurückgegangen. Es gibt noch die Kernvereine bei uns in Jena, und da freuen wir uns auch darüber. Aber die Unterstützung ist natürlich lange nicht mehr so groß wie damals 2015 oder letztes Jahr, als die Ukrainer kamen. Das kann man von den Menschen auch nicht verlangen. Die Verantwortung liegt jetzt hauptsächlich bei uns.

Die Flüchtlingsströme nach Europa werden in den nächsten Jahren ja nicht aufhören. Ist es da auch die Aufgabe einer Kommune, dafür langfristig Infrastrukturen zu bauen?
In erster Linie ist das die Aufgabe des Landes. Dafür braucht es ein Konzept, eine Vorstellung über die Lage, wie viele Menschen pro Jahr kommen, und dann braucht es dafür Geld. Das muss dann auch mit dem Bund abgesprochen werden. Nur so schafft man etwas Dauerhaftes.
Dafür mache ich mich stark in den Verbänden, beim Thüringer Gemeinde- und Städtebund und im deutschen Städtetag. Ich und meine Kollegen machen uns dort regelmäßig stark, dass das als dauerhafte Aufgabe anerkannt wird.

Die Fragen stellten Johannes Vogt und Alexandra Kehm

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