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“Anfeindungen gehören zur Normalität”

Ezra ist eine Organisation, die Betroffenen von rechter Gewalt zur Seite steht. Ein Gespräch über fehlendes Vertrauen in Institutionen, Körperverletzung und Rassismus im Nachbarschaftskontext.

Das Interview führten Johanna Heym und Henriette Köpke

Ezra-Mitarbeiterin Franziska (l.), zusammen mit Redakteurin Henriette. Foto: Johanna Heym

Kümmert sich Thüringen genug um Menschen, die unter rechter Gewalt leiden?
Tatsächlich gibt es in Thüringen im Gegensatz zu anderen Bundesländern infratstrukturelle Leerstellen. Neben Ezra existiert zusätzlich eine professionelle Antidiskriminierungs-Beratungsstelle für ganz Thüringen. Wir sind ein steuerfinanziertes Projekt, das vom Land Gelder erhält. Diese steuerfinanzierten Projekte sind unabdingbar, Geld allein reicht jedoch nicht aus. Wir vermissen häufig eine Solidarisierung der breiten Gesellschaft.

Wird deshalb auf eurer Webseite die Unabhängigkeit von staatlichen Behörden hervorgehoben?
Das hat vor allem mit dem mangelnden Vertrauen Betroffener von rechter Gewalt in Behörden zu tun. Das Schlagwort Justizproblem findet oftmals Anwendung, wenn Verfahren verschleppt werden oder Täter faktisch straffrei davonkommen. Es kommt im Kontakt mit der Polizei und vor Gericht immer wieder zu einer Täter-Opfer-Umkehr, Betroffenen wird beispielsweise eine Verantwortung für den Angriff auf sie zugesprochen oder Rassismus reproduziert. Die Menschen erwarten vom deutschen Rechtsstaat, dass die Gewalt verurteilt wird. Wenn das ausbleibt, ist das häufig ein Schock, aber bildet die Grundlage für ein realistischeres Bild von dem, was erwartet werden kann. Ezra setzt sich deshalb auch für eine gesellschaftliche Veränderung ein, das ist quasi Lobbyarbeit für die Zielgruppen unserer Beratung.

Wie unterstützt Ezra Betroffene?
Das kommt auf den individuellen Bedarf an. Wichtig ist Betroffenen, zu wissen, welche Handlungsmöglichkeiten bestehen, was dies jeweils bedeuten könnte usw. Wer sich für eine Strafanzeige entscheidet, kann unter Umständen eine erfahrene Rechtsanwältin benötigen. Wir begleiten zur Polizei oder zu Gericht. Auch Öffentlichkeitsarbeit und psychosoziale Beratungsgespräche sind quasi Basics.

Welche Gruppe leidet besonders unter rechter Gewalt?
Hauptbetroffen sind Rassismusbetroffene. Das zeigen unsere Jahresstatistiken deutlich. 2022 hat die rassistische Gewalt gegen Minderjährige zugenommen. Grundsätzlich sind Betroffene von rechter Gewalt eine sehr heterogene Gruppe: von Journalist:innen über Engagierte, Wohnungslose oder Angehörige der LGBTIQ*-Community. Letztlich kann jede von rechter Gewalt betroffen sein, wenn sie ins Feindbild passt – die entsprechenden Zuschreibungen wie „politische Gegnerschaft“ liegt bei den Tätern.

Wie viele Menschen beratet ihr im Schnitt?
Ungefähr 200 pro Jahr. Innerhalb der letzten Jahre lässt sich ein leichter Anstieg verzeichnen. Nicht alle Menschen brauchen Beratung, das ist gut. Wir sind dankbar, wenn die Angriffe für unser unabhängiges Monitoring gemeldet und damit anonymisiert sichtbar werden.

Welche Arten von rechter Gewalt werden berichtet? Anfeindungen auf der Straße?
Die gehören meist leider zur Normalität von Betroffenen. Sie kommen vor allem wegen Körperverletzungsdelikten zu uns. Da kann dann wirklich alles dabei sein – von kaputter Brille über einen gebrochenen Kiefer bis hin zur Stichverletzung. Die Folgen des Vorfalls können von Mensch zu Mensch sehr verschieden sein. „Ich hatte Angst um mein Leben”, habe ich bereits öfter gehört. Im Kontext der Rechtsprechung heißt es dann bloß, dass es sich um eine Körperverletzung handele. Was das für die Betroffenen in dem Moment und auch später noch konkret bedeutet, kommt damit nicht zum Ausdruck.

Was können Folgen von einem solchen Angriff sein?
Folgen können sich darin äußern, dass zum Beispiel bestimmte Orte gemieden werden. Der Wunsch kann entstehen, sich selbst besser verteidigen zu können. Gerade in Thüringen gibt es Regionen, wo es für Rassismusbetroffene eine Zumutung bedeutet, allein unterwegs zu sein.

Rätst du Betroffenen dann, aus Thüringen wegzuziehen?
(Franziska lacht) Ich kann es niemanden verübeln. Vor allem bei rassistischer Gewalt im Nachbarschaftskontext. Das eigene Zuhause ist ja eigentlich ein Ort, an dem man Energie tanken und sich wohlfühlen will. Tatsächlich helfen wir dann manchmal dabei, einen Umzug zu organisieren.

Was ist in einem Beratungsgespräch wichtig?
Die drängenden Fragen beziehen sich am Anfang meist auf Informationen im Umgang mit Ermittlungsbehörden. Gerade bei Fällen von Täter-Opfer-Umkehr gibt es dann Druck. Außerdem müssen Betroffene richtig verstanden werden und das ausdrücken können, was in ihnen vorgeht. Daher arbeiten wir mit Sprachmittler:innen. Insgesamt sind die Parteilichkeit und die Bestätigung des Gesagten der betroffenen Person wichtig. Sie muss sich ernst genommen und gesehen fühlen. Einige Betroffene haben sehr konkrete Vorstellungen davon, was sie brauchen, und andere weniger. Wir klären dann gemeinsam die Aufträge an Ezra.

Was ist das Endziel der Beratung?
Hm, schwierig. Idealerweise können Betroffene den Vorfall in ihre Vorstellung und Identität integrieren und verarbeiten. Ganz wichtig ist, dass sie wissen, welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt.

Können Betroffene Vertrauen in ihre Umwelt zurückgewinnen?
Wir sehen, dass es geht, obwohl es sehr abhängig von den vorhandenen Ressourcen der Menschen ist. Es ist besonders beeindruckend, was geflüchtete Menschen erreichen, denn Angriffe berühren bereits erlebte Gewalterfahrungen.

Wie schätzt du das Engagement der Bürger:innen in Thüringen gegen rechte Gewalt ein?
Es gibt Initiativen wie Seebrücke, Lager-Watch und Soli-Asyl Thüringen. Einzelne Bürger:innen haben sich besonders 2015/16 in der Geflüchteten-Hilfe engagiert. Ich denke aber, dass es da teilweise recht paternalistische Vorstellungen dazu gibt, wie man mit Geflüchteten umgeht und wie sie zu leben haben. Auf der Straße im Alltag ist antirassistisches Engagement nicht spürbar für Betroffene.

Was war bisher dein größtes Erfolgserlebnis bei Ezra?
Wir haben einmal einen Gerichtsprozess begleitet, in dem es zu einer massiven Täter-Opfer-Umkehr kam und der Betroffene sich auf der Anklagebank wiederfand. Glücklicherweise hat sich ein ‚neutraler‘ Zeuge gemeldet, was leider sehr selten vorkommt. Dadurch, dass er die Situation wahrgenommen und sich engagiert hat, konnte die Anklage widerlegt werden. Ergebnis des rassistischen Angriffs war also ein Freispruch des Betroffenen, ein Verfahren gegen die Täter gab es nicht. Im schlimmsten Fall wäre der Betroffene mit einer Verurteilung rausgegangen. Das hätte der Person und ihrer Perspektive im Leben stark geschadet.

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