In ihrem charakterstarken Theaterstück Vom Dorf macht Regisseurin Lizzy Timmers die Jenaer Kulturbühne zur Thüringer Peripherie. Über eineinhalb Stunden werden zahlreiche Situationen des ländlichen Lebens performt. Den Städter:innen gefällt’s.
von Markus Manz und Veronika Vonderlind
Die Kulturarena wird zum Dorfplatz. Foto: Joachim Dette
Jena ist ein Dorf. Als die Schauspieltruppe des Theaterhauses am Abend des 6. Junis die ländlich gestaltete Freilichtbühne betritt, sind fast alle Plätze der Kulturarena besetzt. Im Stück Vom Dorf geht es um das Thüringer Landleben. Ein Thema, das nicht unbedingt unkontrovers daherkommt. Um es akkurat abzubilden, hat das Theaterhaus in der Peripherie recherchiert. Dabei haben sich laut eigenen Angaben manche Klischees zerschlagen, andere aber auch bestätigt. Dieser Ansatz ist in Jena nicht neu, verstanden sich doch auch schon andere Stücke wie Knast als Studien eines bestimmten Milieus. Wie bei jeder Milieustudie überlegt man sich auch bei Vom Dorf, wie denn die porträtierte Gruppe auf die Außenansicht reagieren würde, nur um sich im nächsten Moment zu fragen, welche Rolle das überhaupt spielt. Ländliche Selbstansichten findet man doch beileibe genug. Vielleicht ist das aber auch grundsätzlich nicht der richtige Ansatz, um sich dem Stück zu nähern.
Außer einer künstlerischen Analyse der Provinz ist Vom Dorf nämlich auch noch etwas anderes: eine humoristische Aufbereitung des Landlebens, geschrieben und aufgeführt von Städter:innen für Städter:innen. Versteht man das Theaterstück so, muss sich niemand mehr die Frage nach der Meinung eines hypothetischen Landpublikums stellen. Denn an das ist es ja gar nicht adressiert. Viel interessanter ist dann die Frage, inwiefern das Stück der sprichwörtliche Spiegel der Zuschauer:innen ist. Also wo und wie die Vorstellungen und Vorurteile der Städter:innen auf der Dorfbühne verarbeitet werden.
Innerhalb des Figurenensembles ist man geneigt, dabei zuerst an die Ex-Leipzigerin Debo zu denken. Die Krimiautorin ist mit ihrem Sohn Linus aufs Dorf gezogen und seitdem vom Nacht- und Kulturleben der Großstadt abgeschnitten. Ihre alten Freund:innen machen keine Anstalten, sie in der Wahlheimat zu besuchen. Selbst Linus’ Vater ist das Pendeln zu aufwändig. Als Debo sich in einer langen Sprachnachricht nach den Geschehnissen in Leipzig erkundigt, kann man die Lücke trotzdem erahnen, die sie im alten Umfeld hinterlassen hat. Man weiß aber auch, dass sie nicht ewig offen bleiben wird. Die Stadt wartet auf niemanden und Debo nicht auf sie. Im Verlauf des Stücks integriert sie sich immer mehr ins Dorfleben. Die alten Freunde werden nie wieder erwähnt.
Ansonsten wird der urbanen Zuschauerschaft allerdings wenig Identifikationsfläche und Möglichkeit zur Irritation sowie Reflektion geboten. Selbst mit ländlichen Urteilen über urbane Lebensentwürfe wird sich zurückgehalten. Der Stadt-Land-Kontrast bleibt die meiste Zeit nur zwischen Bühne und Tribüne sichtbar.
Von der Wiege bis zur Bahre ist der Suff das einzig Wahre
Das rustikale Landleben auf der Kulturbühne – der Dorfplatz im Zentrum einer Thüringer Großstadt steht sinnbildlich für eine Reihe von Widersprüchen, die im Stück entfaltet werden. Es soll wieder Leben ins Dorf kommen, die Bewohner:innen wollen aber auch unter sich bleiben. Man will weg vom Naziimage, trotzdem soll hier jede:r seine mal mehr, mal weniger diffus rechte Meinung haben dürfen. Politische Emanzipation ist wichtig und die geringen Einflussmöglichkeiten des Einzelnen frustrierend. Als die niederländische Polit-Influencerin Guusje van Broekhuizen die Bewohner:innen ganz am Ende des Stücks jedoch zum Protest aufruft, wird sie ignoriert. Das jährliche Angerfest und der Alkohol sind in diesem Moment wichtiger. Broekhuizen basiert auf der rechten Aktivistin Eva Vlaardingerbroek, die in den Niederlanden Landwirt:innen gegen linke Klimapolitik mobilisiert. Insofern könnte man dem Thüringer Dorfmenschen eine latente politische Weitsicht unterstellen. Primär werden sie hier allerdings als Völkchen gezeichnet, das gerne fordert und schimpft, im Augenblick des Aktivwerdens aber von Trägheit und Tradition zurückgehalten wird. Sozialarbeiter Lukas ist die einzige Figur, die politisch nicht resigniert und Broekhuizen eine alternative Protestform entgegenhält.
Von Hallo bis Hetze in drei Minuten
Die aufgeladene, aber inhaltlich vage Politisierung bleibt auch im weiteren Stückverlauf motivisch. In einer anderen Szene beobachtet man mit Debo die rapide Eigendynamik, mit der ein harmloser Kennenlern-Tratsch mit zwei Dörfler:innen zur rasenden Tirade aufbraust. Die scheinbar unverfängliche Frage nach dem Damals des Dorfes bringt einen Fels ins Rollen. Nachdem die beiden Landleute ihren Zuzug beschreiben, verlieren sie sich melancholisch verklärend in der komfortablen und kollegialen Geordnetheit der DDR. Dumpfe Beats der Dorfkapelle beginnen, ihre Körper fremdgesteuert zu bewegen, so wie auch sie fast mechanisch dazu übergehen, populisitsch propagierte Positionen zu rezitieren. In zunehmend losem Zusammenhang springen sie dabei von Thema zu Thema: der verlorene Ortszusammenhalt, staatliche Anerkennung, Sozialschmarotzende, faule Selbstverwiklicher:innen. Die Hemmschwellen sinken mit dem Füllstand der Bierkrüge. Die nachfolgenden Generationen und die Stadt werden dabei zu zentralen Angriffsflächen, deren alternative Arbeitsethiken bespickt werden. Als man schließlich bei großangelegten Verschwörungsüberzeugungen ankommt, löst sich der Anfall auf und die Musik lässt nach.
Landluft: Erstickungsgefahr?
Das Stück zeigt allerdings mehr als nur pöbelnde Grobiane. Die im Dorf wohnende alleinerziehende Mutter Jenny ist von Nachtschichten und Kinderbetreuung chronisch übermüdet. In überschwänglicher Freude fiebert sie einem zehntägigen Urlaub mit ihren Kindern entgegen, für den sie drei Jahre lang gespart hat. Der asketische Alltag ist nur mit viel Kaffee zu bewältigen, den sie daher zu ihrem Charaktermerkmal macht. Die Figur zeigt die ganze Tragik eines Lebens, das mit kurzen Unterbrechungen ein anhaltendes “Arschzusammenzwicken” ist: Immer wieder Hustlen bis zum Wochenende, Freudlosigkeit bis zum Fest, Tristesse bis zum Türkei-Urlaub. Das toughe Outfit in Rot und Leder wirkt wie eine hechelnde Beteuerung des heroischen Durchhaltens. Der Urlaub steht als schemenhafte Verheißung am Ende einer wachsenden Kette von Aufwänden und Verzicht. Ob dieser die Erwartungen erfüllen wird, bleibt offen.
Festvorbereitungen im Dorf. Foto: Joachim Dette
Auf dem Land zu leben, heißt einverstanden sein. Das wird im Stück immer wieder klar. Mehrere Figuren träumen von einem anderen Leben, hadern aber mit der Abgabe ihrer übernommenen Pflichten und Sinngaranten im Dorf. So wird sich eingerichtet: Die ältere Frau Löschwitz organisiert für sich und “ihre Mädels” jährlich einen Sektexzess, um sich den Männertag unter Nutzung desselben Rausches erträglich zu machen. Der revolutionäre Geist zeigt sich nur noch leise in der Freude, die verstrahlt schwankenden Männer sanft, aber sicher umzuschubsen. “In dubio prosecco”. Einverstanden mit ländlichen Gepflogenheiten muss man auch bei betrunkenem Autofahren und Trichtersaufen sein – beides Szenen, die aufgrund ihrer Drastik und Aufwendigkeit in der Kulturarena sehr gut ankommen.
Mit Vom Dorf ist Lizzy Timmers ein unterhaltsames Gesellschaftsdrama gelungen, das viele unterschiedliche Lebensrealitäten abbildet. Die dörflichen Schicksale und Begegnungen sind komisch, seltsam, oft auch tieftraurig. Das Stück legt Wert darauf, das Thüringer Land nicht als einen homogenen Ideologieraum darzustellen, sondern als Ort, an dem verschiedene Weltanschauungen aufeinandertreffen. Teilweise begegnet man sich dabei mit einer Einvernehmlichkeit, die nicht unbedingt erstrebenswert sein muss. Wenn am Ende Antifaschist:innen Verschwörungsideolog:innen die Haare beim Kotzen halten, kann man sich fragen, ob die politisch vielbeschworene Überwindung der Gräben immer und überall so erstrebenswert ist. Neben viel Peripherie-Parodie und Kritik schaut sich das Stück als Städter:in weitgehend dissonanzfrei. Als Vertreter:in urbaner Lebensentwürfe wird man hier nicht aus der Reserve gelockt, was wohl daran liegt, dass Vom Dorf in erster Linie Außenansichten bietet. Dadurch bekommt der Blick auf die Kulturbühne als Städter:in aber auch oft etwas Voyeuristisches. Wer sich daran nicht stört, erfreut sich vielleicht am pointierten Charakterensemble, beeindruckenden Bühnenbildern und der experimentellen Live-Musik.