Poetisches Finale im Kassablanca

Im Jenaer Club Kassablanca fand am 13. Mai das Finale der diesjährigen Landesmeisterschaft im Poetry Slam statt. Nach zwei Stunden lyrischen Kräftemessens wurde Julius Keinath, der bekannteste Ikea-Mitarbeiter der Thüringer Dichterszene, zum Sieger gekürt.

von Markus Manz und Veronika Vonderlind

Ein kloßartiger Sieg für Julius Keinath. Foto: Christoph Worsch

Eine lange Schlange schiebt sich über die Stufen ins Kassablanca, wo es an diesem Samstag Poesie statt Beats zu hören gibt – attraktiv für die 600 Besucher der ausverkauften Veranstaltung. Dabei lassen sich viele verschiedene Altersgruppen antreffen. Für manche Familien scheint der Dichterwettkampf – hin und wieder auch Dichterschlacht genannt – kleinster gemeinsamer Kulturnenner zu sein. Gemeinsam haben die meisten Besucher jedenfalls, dass sie sich in die anarchische Atmosphäre des Clubs nicht gerade organisch einfügen.

Zum Auftakt der Veranstaltung kredenzt Johanna Philipp zwei mäßig aufwühlende Kalenderspruchballaden. Mit elegischer Altklugheit singt die Songslammeisterin darüber, warum Menschen, die nicht Johanna Philipp heißen, auf dem falschen Weg sind und was sie dagegen tun können. Danach skaliert das Moderationsduo die Begeisterung der Zuschauer auf einer Klatschometer-Skala von Sülze bis Thüringer Kloß. Dabei handelt es sich allerdings um einen rein symbolischen Akt – über den Landesmeisterschaftstitel entscheiden nämlich allein die Juroren. Nach einigem Vorgeplänkel der aufgedrehten Moderation ist es endlich so weit. Die acht Schlachter tragen ihre Texte vor. Diese reichen von politischen Dissensen mit Verwandten über psychische Erkrankungen bis hin zum Traum vom professionellen Hula-Hoop-Reifen-Designerinnen-Dasein. Zu einigen davon nun mehr:

Poetisches Panorma des Abends

Lisa-Maria Wagner macht den Anfang: Eine junge Regisseurin übernimmt unbedarft die Produktion eines Westernfilms. Diese Geschichte verpackt sie in einem Mitmachtext, der das Publikum als Resonanzkörper miteinbezieht und sich damit die titelgebende „halbe Miete“ sichert. Konditioniert stößt die Menge ein explosives „Boom“ oder empörtes Raunen aus, wenn die entsprechenden Triggerworte fallen.

Darauf folgt „Tante Heike“, eine Polemik der Slammerin Suzi mit Z gegen die unkontrovers heikle Tante Heike. Von dieser Personifikation des Gesinnungs-Grauens grenzt sich Suzi entschieden ab. Das Portrait einer christlich-fundamentalistischen, betont karnivoren, alltagsrassistischen, queerfeindlichen und unsensiblen Spießerin funktioniert als lyrische Zielscheibe nachvollziehbar gut. In der Umsetzung hat man vom Vulgäratheismus bis zur Voldemort-Referenz alles aber schon einmal gehört. Voldemort wird überdies dazu benutzt, die eigenen Awareness-Ansprüche zu unterlaufen, indem Suzi Heikes Aussehen vorführt. Die Menge grölt.

Ein subtilerer Text kommt von Leonard Fischer und handelt von der beschwerten Beziehung zu seiner aus Venezuela geflohenen Frau. In rhythmischen Versen beschreibt er die verzweifelnde emotionale Entfernung, die nicht nur zwischen Flucht- und Heimatland, sondern auch zwischen ihm und seiner Frau steht. Ein sehr feinfühliger Text – die Jury belohnt ihn mit 6,9 von 10 Punkten.

Der Text „Irgendwo klingelt immer ein Telefon“ von der Slammerin Birdy ist eine liebsame Wiederholung ihrer Vorstellung beim Hörsaalslam. Entlang der Analogie zum sich unvorhersehbar meldenden Telefon, thematisiert sie die gefühlte Ohnmacht gegenüber ihrer psychischen Störung und das damit verbundene Stigma.

Ist das noch Poetry?

In Dana Galkinas Text geht es um die Eindrücke einer Russin vom Ukrainekrieg. Dana schildert darin, wie schwer es für sie war, mit der (medial nach Jena vermittelten) Realität des Krieges umzugehen. Man kann sich fragen, ob die sehr emotionale Verarbeitung nicht eine Form der Aneignung fremder Kriegstraumata ist. Vielleicht ist so ein Wettbewerb dafür auch kein geeigneter Ort. Oder vielleicht auch doch? Die Jury vergibt jedenfalls 9,5 Punkte.

Sieger wird die Szenegröße Julius Keinath, der in seinen pointierten Texten gesellschaftskritische Statements abfeuert und seinem teils schon vom Hörsaalslam 2021 bekannten Ikea-Textmaterial ein Comeback ermöglicht. Der schnelle Wechsel aus Passagen überbetonter Sachlichkeit und wütendem Schreien ergibt ein amüsantes Ganzes, das die Jury zu Höchstwertungen antreibt. Und das, obwohl er mit dem eher Stand-up-artigen Material dem Lyrischen betont fern ist. Was das über die Aktualität des Poetry Slams sagt, sei mal dahingestellt. Alles in allem ein zufriedenstellendes Gemetzel mit einem etwas erwartbaren Ende. 6,1 von 10 Punkten.

Eine Antwort auf Poetisches Finale im Kassablanca

  • Großartiger Artikel! Alle Achtung, Sie haben nicht nur aufmerksam beobachtet, sondern auch fein analysiert und in den Kontext gesetzt. Ein beeindrucktes “Daumen hoch” aus dem Süden der Republik

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