Doktor der Anarchie

Jonathan Eibisch promovierte am soziologischen Institut bei Tilman Reitz zu einem ungewöhnlichen Thema: „Die (Anti-)Politik im Anarchismus“. Im Gespräch mit ihm zu Anarchie, Widersprüchen, der zu braven Studierendenschaft, Leidenschaft und Trotz.

Das Interview führte Sinan Kücükvardar

Jonathan Eibisch, promovierter Anarchist. Foto: Privat

Du hast deine Doktorarbeit über die (Anti-)Politik im Anarchismus geschrieben. Was ist Antipolitik?
Zuallererst ist es ein theoretisches Konzept, das versucht, was wir als Politik verstehen – im Alltagsbewusstsein oder in Fachdiskursen –, infrage zu stellen, um diese Debatte kritischer und grundsätzlicher zu führen. Antipolitik ist der Versuch, Politik zu problematisieren, weil sie hierarchisch ist, weil sie Machtkampf ist und Ungleichheiten schafft. Das heißt aber nicht, dass der Anarchismus apolitisch oder unpolitisch ist.

Ist eine antipolitische Einstellung wirklich der beste Weg oder bräuchte es nicht eine neue Leidenschaft für Politik und politische Partizipation in uns allen?
Das kommt auf die Definition des Politikbegriffs an. Ich bin so herangegangen, zu sagen, dass es verschiedene Formen neben der Politik gibt, wie sich Menschen organisieren und wie sie handeln können, um mit emanzipatorischen Vorstellungen Gesellschaft zu verändern. Ich nutze da aber einen (ultra-)realistischen Politikbegriff, der gerade auf die problematischen Seiten der Politik abzielt, also zeigen soll, was wirklich passiert. Aber im Grunde ist beides wahr: Wenn man einen radikaldemokratischen Politikbegriff verwendet, könnte man zum Beispiel andererseits genau diese Partizipation gutheißen. Die Antipolitik ist der Versuch, die Politik mit mehr Distanz zu sehen und zu fragen, welche Aktionen und Praktiken zu einer anderen Gesellschaft führen.

Identifizierst du dich als Anarchist?
Ja.

Was bedeutet das für dich im Alltag? Hast du das Gefühl, wenn du durch die Welt gehst, immer wieder daran erinnert zu werden, dass du Anarchist bist?
Nein, nicht jeden Tag. Ich habe viel zu dem Thema gearbeitet und da kam das Wort immer wieder auf. Das bedeutet aber nicht, dass ich eine persönliche oder emotionale Verbindung dazu habe. Es geht um eine Grundhaltung, die ich gefunden habe. Mir ist wichtig, keine reine Identität daraus zu machen und meine Handlungen dann aus dieser abzuleiten. Es geht eben um Positionen, die ich über viele Jahre Erfahrung gefunden habe. Nicht das Wort ist von Bedeutung, sondern das, was die Leute machen. Deshalb sage ich auch nicht, dass Anarchismus besser ist als andere Weltanschauungen. Aber ich finde mich darin wieder.

Anarchismus, Anarchie, Chaos – alles dasselbe, oder?
Anarchismus als Strömung ist die Bewegung zur Anarchie hin. Ich würde sagen, dass das ein Wechselverhältnis ist: das Streben, eine andere Gesellschaft zu realisieren. Inhaltlich ist es ein libertärer Sozialismus, also ein Sozialismus, der nicht staatlich ist, sondern graswurzelartig entsteht. Das bedeutet: in ethischer Hinsicht eine Gleichheit von Menschen, auch in ökonomischer Hinsicht eine Angleichung und in politischer Hinsicht eine gleichberechtigte Partizipation, ohne dass es eine Gleichmacherei ist. Anarchie ist der Modus, der jede Form von verfestigter Gesellschaftsordnung infrage stellt. Zum Beispiel können sich Herrschaft und Hierarchien, die im Anarchismus kritisiert werden, immer wieder etablieren. Wir müssen also immer wieder zur Verhandlung stellen, wie wir miteinander leben wollen, und das mit dem Anspruch einer Vorstellung von ethischer Gleichwertigkeit und der konkreten Vorstellung einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Und was ist mit dem Chaos?
Chaos wird oft negativ gesehen. Aber im Grunde ist es genau das: verfestigte Ordnungen infrage zu stellen. Das ist schlicht wichtig, um Neues zu erschaffen und um zu verstehen, dass die Verhältnisse, in denen wir leben, von Menschen gestaltet werden können und nicht nur gegeben sind. Man kann aber auch andersherum herangehen und sagen: Die Gesellschaftsordnung, in der wir leben, ist auch ziemlich chaotisch und sorgt für viele Probleme und Widersprüche. Anarchist:innen wollen gleichzeitig eine bessere gesellschaftliche Ordnung, die nicht so konflikthaft ist wie unsere heutige.

Foto: Line Urbanek

Du als Anarchist hast eine Doktorarbeit an der FSU, einer staatlichen Institution, abgegeben, in deren Kern es um Anarchismus geht. Ist das kein Widerspruch? Und folgt daraus nicht eine kognitive Dissonanz?
Es ist auf jeden Fall ein Widerspruch und auch hinsichtlich der kognitiven Dissonanz stimme ich zu. Aber die Frage ist, wie sehr man diesen Widerspruch überspitzen muss. Ich kaufe ja zum Beispiel auch im Supermarkt ein und partizipiere so an den Produktionsverhältnissen. Ich weiß, dass ich es auch anders machen könnte, aber wir alle bewegen uns in Widersprüchen – und auch andere Menschen, die andere Positionen haben. Wie damit umzugehen ist, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Es ist eine Form, die ich zu denken gelernt habe. Ich versuche mir das bewusst zu halten, weil es mir ja nicht darum geht, Leute zu indoktrinieren, ihnen etwas zu verkaufen oder Recht zu behalten. Vielmehr möchte ich Menschen dazu anzuregen, sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Deshalb versuche ich, die Widersprüche, in denen ich mich befinde, zu verstehen und sie transparent zu machen.

War deine Promotion für dich auch eine Art Rebellion? Gegen die Institution Universität oder auch gegenüber der Gesellschaft?
Ich würde von einer Trotzhaltung sprechen. Sie besteht darin, den Nachweis zu bringen, dass man zu Anarchismus nicht nur geschichtswissenschaftlich, sondern auch in der politischen Theorie promovieren kann, und dass es seriös ist. Dahinter steckt ein Starrsinn, den ich von meiner Oma geerbt habe. Das bedeutet ja eigentlich, festzustehen, zu widerstehen und nicht einzuknicken. Ich möchte nicht in allen Bereichen in der Hinsicht so geradlinig sein, in diesem spezifischen Fall wollte ich aber für mein Thema eintreten.

Mir ging es mit der Promotion nicht darum, eine wissenschaftliche Karriere einzuschlagen, sondern darum ein Thema, für das ich brenne, wirklich zu erforschen.

Warum hast du ein Thema gewählt, dass dir gefällt und für das du ein persönliches Interesse hegst? Du hättest ja in der Politikwissenschaft auch über die Kanzlerkandidat:innenfindung in der CDU/CSU forschen können.
Ja, dann hätte ich aber nicht promoviert, weil es mich persönlich nicht interessiert oder ich keine gesellschaftliche Relevanz darin sehe. Mir ging es mit der Promotion nicht darum, eine wissenschaftliche Karriere einzuschlagen, sondern darum, ein Thema, für das ich brenne, wirklich zu erforschen. Das ist natürlich eine subjektive Bewertung.

Würdest du den Studierenden empfehlen, dazu zu forschen, worin sie einen Sinn sehen? Oder meinst du, es ist legitim, dass sie sich dem Wissenschaftssystem beugen, wenn sie eine wissenschaftliche Karriere anstreben?
Ich finde, dass sowohl in der Wissenschaft als auch bei den Studis alle viel zu brav sind. Wenn ich sage, dass ich mich als Anarchist verstehe und zu dem Thema arbeite, dann tue ich das, weil mir die Demokratie, in der wir leben, das ermöglicht. Viele Leute, die sich als linksradikal verorten, haben eine diffuse Vorstellung, wie sie damit umgehen sollen. Ich würde alle Leute dazu ermuntern, ihren eigenen Interessen leidenschaftlich zu folgen und sich dabei zusammenzuschließen. Wenn das mehr geschieht, dann wird die Form, wie wir Wissen produzieren, wie wir die Uni gestalten und sie uns aneignen, eine andere. Und genau darum sollte es gehen. Das ist für mich Forschung im eigentlichen Sinne – nicht nur das Erlernen von irgendetwas Festgesetztem und das bloße Wiedergeben.

Es ist schwer vorstellbar, dass es viele Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt gibt, sich wegen seines Wissens über Anarchismus ausbeuten lassen zu können. Geht es nicht an der Realität vorbei, seinem eigenen Idealismus so viel Raum in Lebensentscheidungen zu geben?
Ich verstehe, woher die Frage kommt. Ich habe sie mir allerdings nicht im Vorhinein gestellt. Natürlich muss ich mich jetzt damit beschäftigen, was ich damit mache. Wenn ich sie mir vorher gestellt hätte, dann hätte sie mich daran gehindert, das zu machen, was ich eigentlich will. Klar hat es auch einen Aspekt von Selbstverwirklichung, der mir hier wichtiger ist als anderen Leuten, der mir vielleicht auch wichtiger ist als Karriere. Gleichzeitig war es auch nie eine richtige Entscheidung: Eins hat sich ans andere angefügt. Ich sehe mich als kämpferische Person und ich habe das Gefühl, dass ich meine Leidenschaft in ein anderes Projekt gesteckt hätte, wenn es nicht zur Dissertation gekommen wäre, zum Beispiel in aktivistische Arbeit. Wobei ich auch meine geleistete Arbeit als Aktivismus sehe. Wenn mir dafür jemand Geld geben würde, würde ich es nehmen. Aber ich werde sie nicht verkaufen.

Dir gefällt das Thema, über das du geschrieben hast?
Ja, mir gefällt das Thema schon, aber es war dann doch sehr eine Art Besessenheit, oder man könnte auch sagen: Leidenschaft im eigentlichen Sinne. Ich hatte das Gefühl, ich müsse etwas in die Richtung erarbeiten, weil es kaum etwas zum Thema gibt. Und wenn die Leidenschaft zur Arbeit wird, dann erhält man ein distanziertes Verhältnis. Das nervt, passiert aber allen Forschenden, die aus einem eigenen Interesse heraus forschen. Ich dachte, jemand müsste sowas mal machen.

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