Die Spuren des NSU

Jena spielt eine besondere Rolle im NSU-Komplex. Doch was versäumt die Stadt bis heute? Eine Audioführung begibt sich auf die Spuren der Vergangenheit und der Zukunft.

von Constanze Winter

Zu Ehren des ersten Opfers des NSU wurde die Straßenbahnhaltestelle in „Enver- Şimşek-Platz“ umbenannt. Foto: Melina Blumenröther

Blumen sind ein Symbol der Hoffnung. Wer an der Audiotour teilnimmt, kann sich zu Beginn der Führung am Volksbad Blumensamen mitnehmen, deren Hintergrund die Teilnehmenden im Laufe der Spurensuche durch Jena entdecken werden. Die Unabgeschlossenheit des NSU-Komplexes zeigte sich erst vor kurzem wieder, als die NSU-Akten des hessischen Verfassungsschutzes, die eigentlich noch jahrzehntelang unter Verschluss bleiben sollten, im Rahmen der Satiresendung ZDF Magazin Royale enthüllt wurden. Das Ergebnis dieser Veröffentlichung ist im Prinzip das Versagen der deutschen Behörden, die durch gründlichere Ermittlungen vielleicht ein paar Leben hätten retten können.

In Jena etablierte sich in den 1990ern der Nationalsozialistische Untergrund um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die rechtsradikale Szene versetzte in dieser Zeit vor allem die Stadtteile Winzerla und Lobeda in Angst und Schrecken, betont die Sprecherin des Rundgangs, weswegen die Stadt Jena eine besondere Verantwortung zur Aufarbeitung ihrer rechten Vergangenheit trägt. Im Rahmen des Theaterprojektes Die mutige Mehrheit begibt sich Antje Schupp, eine preisgekrönte Regisseurin, Performerin und Autorin, auf die Spuren des NSU durch Jena. Der kostenlose, etwa dreistündige Audio-Walk (Un)Sichtbare Spuren führt durch Lobeda, Winzerla und das Stadtzentrum. Die Tour ist mit dem Smartphone abrufbar unter unsichtbarespuren.de und kann jederzeit mit eigenen Kopfhörern durchgeführt werden. Neben Besuchen von geschichtsträchtigen Orten im Hinblick auf den NSU-Komplex, wie zum sogenannten „Braunen Haus“ in Alt-Lobeda, geben Interviews Einblicke in das Jena der 1990er-Jahre.

Lobeda

Mit der Tram, die Schupp als „Angst-Ort“ von Menschen mit Migrationshintergrund beschreibt, geht es nach Lobeda. Dort werden die Zuhörenden in ein nettes Gässchen geführt. Mehrfamilienhäuser, ein Deko-
laden und eine Pizzeria – hier ließe sich wohl kaum das ehemalige Braune Haus vermuten. Heute unauffällig, schmückte diesen Ort vor circa 20 Jahren noch ein Schild mit der Aufschrift „Persönlich erreichen Sie uns in der Zeit von 1939 – 1945“. Teilnehmende des Rundgangs können auf ihrem Smartphone während der Tour Originalbilder aus der Zeit sehen, in der das Braune Haus noch als Treffpunkt für lokale Neonazis diente. Die rechte Szene wählte die Lage des Hauses bewusst – wenige Meter weiter befindet sich die B88. Die Zahl symbolisiert den ideologischen und rechtsradikalen Ausruf „Heil Hitler“. Entlang dieser Straße befinden sich zahlreiche Dörfer, in denen sich noch heute rechte Gruppierungen versammeln.

Scheinbar sieht sich die Stadt nicht hinreichend in der Verantwortung der Aufarbeitung.

Die Audiotour führt weiter durch Lobeda. Schupp lädt die Zuhörenden zu Gedankenexperimenten ein und überbrückt Wartezeiten an Ampeln und Haltestellen durch Interviews. Eines davon wurde mit der Sozialpädagogin Inga Riedel geführt, die ihre Jugend in Winzerla und Lobeda verbrachte. Angst ist hier das Stichwort. Alltägliche Wege, wie der von der Schule nach Hause, wurden von Rechtsradikalen mit Baseballschlägern versperrt. Deutlich wird hierbei auch, dass die Polizei so gut wie gar nichts unternahm. Weder bewachte sie kritische Ecken, noch wurden trotz vorliegender Hinweise Ermittlungen eingeleitet. Immer wieder fällt der Satz „Der NSU war kein Trio“ in der Audiotour. Es gab viele Mitwissende, doch kaum einer oder eine von ihnen wurde zur Rechenschaft gezogen. Wahrscheinlich leben sie noch heute in Winzerla und Lobeda – vielleicht sogar in deinem Nachbarhaus.

Winzerla

Dem Stadtteil Winzerla kommt eine zentrale Rolle im NSU-Komplex zu. Im ehemaligen Jugendzentrum „Winzerklub“, der nächsten Station des Rundgangs, organisierte sich das NSU-Trio erstmals. Heute befindet sich dort ironischerweise eine Unterkunft für Menschen mit Migrationshintergrund. Der kurze Weg von diesem Jugendzentrum zur Straßenbahnhaltestelle Winzerla galt früher als eine Tortur für viele. Nach Veranstaltungen im Jugendclub wurden Jugendliche dort von Neonazis erwartet und oft verprügelt. Ein Interview mit einem Sozialpädagogen, der damals dort arbeitete, zeigt, dass die ideologischen Gedanken bei jenen Rechtsradikalen zu dieser Zeit schon so verfestigt waren, dass eine pädagogische Handhabe nahezu unmöglich war. Immer wieder stellt die Autorin und Sprecherin der Tour die Frage: „Was würden Sie tun?“ Eine schwierige Frage. Was würde man denn selbst machen, wenn Rechtsradikale nebenan einziehen oder man von Jugendlichen Naziparolen hört? In Winzerla kann man sich diese Frage leider noch zu oft stellen. So geht es nach einem kurzen Abstecher zum ehemaligen Wohnhaus von Beate Zschäpe und ihrer Mutter in der Schomerusstraße weiter zum Enver-Şimşek-Platz.

Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşik, Halit Yozgat, Michele Kiesewetter und Enver Şimşek.

Das sind die Namen der zehn Opfer des NSU. Enver Şimşek wurde am 11. September 2000 in Nürnberg als Erster von ihnen ermordet. 2021 errichtete man ihm zu Ehren in Winzerla eine Gedenktafel. Kurz darauf wurde die dortige Straßenbahnhaltestelle von „Damaschkeweg“ in „Enver- Şimşek-Platz“ umbenannt. Auf dem Platz vor der Gedenktafel trifft man immer noch auf frühere Mitglieder rechter Platzgruppen, was sich während der eigenen Durchführung des Audio-Walks zeigt, aber auch von Schupp betont wird. Steigt man also am Enver-Şimşek-Platz aus, begegnet man nicht selten Menschen, die den Hitlergruß zeigen oder rechtsradikale Parolen von sich geben. Eine seltsame Koexistenz. Kann man der Opfer rechtmäßig gedenken, wenn ein paar Schritte weiter immer noch Neonazis ihre Ideologie ausleben? Winzerla weiß sicher um seine Probleme. Lange galt dieser Stadtteil als rechts, wie sich während der Audiotour in Erfahrung bringen lässt. Wegzug und Zuzug lassen diesen Stadtteil heute allerdings etwas weniger radikal wirken.

Schupp, die unter anderem Preisträgerin des Schweizer Theaterpreises 2021 ist, führt die Teilnehmenden gegen Ende der Tour in die Johannisstraße. Hier sitzt die Junge Gemeinde (JG), die sich für die Aufarbeitung des NSU-Komplexes und allgemein für eine bunte Gesellschaft einsetzt. Gegenüber der JG steht ein Holz-Denkmal  in Gedenken an die Opfer des NSU – ein selbstgeschnitztes, wohlgemerkt. Die Audio-Führung zeigt, dass Jena bis heute versäumt hat, eine würdevolle Gedenkstätte für die Opfer einzurichten. Scheinbar sieht sich die Stadt nicht hinreichend in der Verantwortung, da die meisten Gedenkprojekte von Vereinen wie der JG organisiert sind.

Die Führung endet am Johannisfriedhof. Ein ruhiger und historischer Ort, an dem die Blumensamen, die man zu Beginn der Tour bekam, gesät werden können. „Wie kann ich selber der Opfer gedenken?“, ist eine Frage von Antje Schupp. Am Ende bleibt der Gedanke, dass eine würdevolle Gedenkstätte auf dem Johannisfriedhof das wäre, was die Mordopfer des NSU ehren könnte. Von der Stadt Jena wäre das eine große Geste, aber vielleicht auch das Mindeste. Traurig ist es allemal, dass die Stadt die Errichtung eines Denkmals bisher versäumt hat. Lediglich der Enver-Şimşek-Platz und die Gedenktafel in Winzerla bieten ein kleines Gedenken an eines der Opfer.

Wo gehts hin?

Die Spurensuche durch Jena möchte informieren und illustrieren. Sicher wissen viele grob um die Entstehungsgeschichte des NSU. Die Führung an Orte, die so alltäglich sind, zeigt den Hörenden jedoch auf besondere Art und Weise, wie sich die rechtsradikale Szene in Jena entwickeln konnte. Schupp stellt viele Fragen während der Tour, was die Teilnehmenden zum Nachdenken anregen soll. Mit fast dreißig Jahren Abstand zu den „Baseballschlägerjahren“ kann jeder von uns sagen, wir hätten anders gehandelt und wären lauter gewesen. Aber wissen wir wirklich, welchen Einfluss die Angst auf uns haben kann? Die Schweizer Regisseurin möchte neben einer kleinen Zeitreise ins Jena der 1990er Jahre mehr Bewusstsein dafür schaffen, was die Stadt bisher noch versäumt und wie wir als Privatpersonen trotzdem etwas zum Gedenken der Opfer beitragen können. Vor allen Dingen soll die Tour aber Hoffnung säen.

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