Die Kulturkisten gepackt

Das Café Wagner muss sein Zuhause verlassen. Über einen Umzug und die Familie, die ihn bewerkstelligen muss.

von Gustav Suliak

Pausieren war keine Option, deswegen zieht das Wagner um. Foto: Line Urbanek

Als Bewohnerinnen einer kleinen Stadt teilt man sich eine begrenzte Erfahrungswelt und macht so gewisse kollektive Erfahrungen. Man erfährt: Auf dem Friedensberg sonnt es sich gut, am Wehr der Saale schwimmt es sich gut und im Café Wagner tanzt es sich eben gut. Und das nicht erst seit gestern. In Gesprächen mit der mittelalten Jenaer Bevölkerung erahnt man, dass auch die Generationen vor uns nach langen Nächten alkoholisiert die Wagnergasse herunterpolterten.
Vor knapp 30 Jahren gründete sich das Café Wagner und hat sich seither als Institution in der Kulturszene Jenas etabliert.


Ob das Projekt, seit 2001 in der Gestalt des Wagner e. V., über 2023 hinaus bestehen kann, war zeitweise nicht sicher. Denn das Gebäude in der Wagnergasse muss kernsaniert werden. Entsprechende Baumaßnahmen sollen ab März zwei Jahre dauern und werden den Veranstaltungsbetrieb in diesem Zeitraum unmöglich machen. So lange zu pausieren, wurde von den Vereinsmitgliedern nicht in Betracht gezogen. Was wäre schließlich aus den laufenden Arbeitsverträgen und der funktionierenden Vereinsstruktur geworden? Und wer kümmert sich um die Kultur in Jena? Die notwendige Konsequenz: Das Café Wagner muss übergangsweise umziehen.

Das Brachland wir kultiviert

Eine Interimslösung wurde lange gesucht und in einem alten Hörsaal der ehemaligen Kinderklinik in der Westbahnhofstraße gefunden. Dieser ist noch nicht an Strom und Wasser angeschlossen, nicht schallgedämpft und darüber hinaus überzogen mit altem Laminatfußboden. Bis der Raum also für den Genuss von Kultur und Essen bereit ist, werden noch einige Wochen Arbeit und viel Geld in ihn hineingesteckt werden müssen.


Die Umzugskosten werden vom Wagner e. V. auf 125.000 Euro geschätzt. Diese hat der Verein noch nicht in Gänze gesammelt, ein Teil fehlt noch. Finanzielle Unterstützung leisteten Jenakultur, das Land Thüringen und zu einem erheblichen Anteil die Jenaer Bevölkerung selbst. Mit einer Crowdfunding-Kampagne und weiteren Spendenaktionen wandte man sich direkt an die Besucherinnen des Wagners und „erhielt mit insgesamt 50.000 Euro enormen Rückenwind“, erzählt Max, Vorstandsmitglied im Wagner e. V.

Musikalische Versorgung gewährleistet

Für den Umzugswagen scheint der Weg also fast frei zu sein und es bahnt sich so etwas wie eine Erfolgsgeschichte an. Aber die Geschichte des Umzugs ist vor allem geprägt von Anstrengungen und Zurückweisungen. Im Film Nichtstadt, der in Ausgabe 418 besprochen wurde, wird angedeutet, dass Jena Schwierigkeiten damit hat, soziokulturelle Räume zu ermöglichen und diese sogar aus dem Stadtbild verdrängt. Damit sich bei der Suche nach einem Ausweichobjekt die Stadt dem Café Wagner unterstützend zur Seite stellte, musste erst einmal öffentlicher Druck entstehen, ein Privileg, das kleinere kulturelle Einrichtungen nicht genießen. Dementsprechend könnte der Umzug des Café Wagner auch als Modellbeispiel fungieren und der Stadt zeigen, „dass es auch anders sein könnte und was ein neuer Ort des Kulturschaffens mit einem Stadtteil macht“, so Michael, ebenfalls Mitglied im Vorstand.


„Hier plant die Friedrich-Schiller-Universität einen neuen Campus für Sozialwissenschaften“, liest man seit einigen Jahren an der Fassade der künftigen Spielstätte. Das wird frühestens 2025 passieren, bis dahin ist dem Wagner e. V. die Nutzung des Areals gestattet. Vermutlich wird der Hörsaal nach den zwei Jahren musikalischer Beschallung abgerissen. „Wenn man das wirtschaftlich betrachtet, ist das natürlich völliger Unsinn“, erklärt Michael, „aber Kultur kann man eben nicht nur wirtschaftlich betrachten.“ Außerdem sollen Teile der Baumaterialien nach der Zeit im Hörsaal weitergenutzt werden.


Die kommenden Wochen werden für die ungefähr 30 aktiven Mitglieder vermutlich sehr auslaugend. Doch Max und Michael sind optimistisch: „Wenn wir alle an einem Strang ziehen, dann ist sehr viel möglich. Das Wagner ist im Endeffekt eine große Familie, die jetzt einen großen, komplizierten Umzug macht.“


Ab Mai soll das Veranstaltungsprogramm wieder anlaufen. Dann wird sich Jena wieder an Konzerten, Lesungen, Theater- und Filmvorstellungen des Wagners erfreuen dürfen. Mit dem vom Verein frisch getauften „Musikalischen Versorgungszentrum“ wird die kulturelle Erfahrungswelt der Stadt um einen Ort erweitert werden.


Hinter ihm verbirgt sich ein klarer, selbstgegebener Auftrag: Jena hat einen Bedarf nach Musik und Kultur und das Wagner wird ihn decken.

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