Ein kräftiger Ruck hin zur Utopie

Das Politische kann Streit, Widerstand oder Kampf bedeuten. Auch an der Friedrich-Schiller-Universität Jena wird sich politisch auseinandergesetzt oder gestritten. Involviert sind auch Studierende. Gibt es für sie dabei enttäuschende Momente?

von Lars Materne

Der Hörsaal zurück in studentischer Hand. Foto: Pauline Schiller.

Um die massive Tür zum Hörsaal 1 zu öffnen, bedarf es Kraft. Während er in der Regel als Ort der Lehre fungiert, wird der Hörsaal vereinzelt von Studierenden auch zum Raum des Politischen gemacht. Zuletzt schufen Studierende solch einen Raum durch ihre Hörsaalbesetzung und setzten die Verantwortlichen dadurch unter Druck. Sie forderten unter anderem eine solidarische Lösung bei der Frage nach der Streichung finanzieller Mittel, den Erhalt des Lehrstuhls der Geschlechtergeschichte und Maßnahmen gegen die finanziell prekäre Lage von Studierenden (Das Akrützel berichtet darüber in Heft 424 und 425.). Anders als Gremien der universitären Politik laufen studentische Initiativen nicht nach festen Regularien ab und haben keine institutionelle Entscheidungsmacht. Inwiefern kommt es deswegen zu  Enttäuschungen?

Vor der Tür des Seminarraums 309 liegt ein Teppichvorleger. Nachdem die Besetzung zu Ende ging, zogen die Studierenden in den kleineren Raum um. Dort haben sie vorerst einen Ort bekommen, um das Bündnis „Mehr Bildung wagen – für die Ausfinanzierung der Geisteswissenschaften und sichere und gut bezahlte Arbeit an der Universität“ zu organisieren. Hier beginnt die Suche nach Antworten. Im Raum erinnert wenig an die Atmosphäre eines Seminars. Viel eher laden Sofas, Lichterketten und Wasserkocher zum Verweilen ein. An einem Tisch kommt es zum Gespräch mit zwei Studierenden der Hörsaalbesetzung. Sie stellen sich als Toni und Nico vor, im Alltag lauten ihre Namen aber anders.

Im Rückblick beschreiben beide die Hörsaalbesetzung als ein Probierfeld. Sie sind der Meinung, dass sie vor allem linke Studierende für ihre Protestform motivieren konnten. Dabei ist nach Tonis Sicht das entscheidende Motiv, in den utopischen Raum vorzudringen, um zu schauen, was anders gemacht werden könnte, was aus der Vergangenheit wieder aufgenommen werden sollte und was sich konkret anders machen ließe. Mit einem Programm aus Vorträgen, Workshops und Tanzdemonstrationen sowie Spieleabenden und Filmvorstellungen zeigten sie, wie universitärer Raum auch gestaltet werden könnte.

Lebendiger Protest, erdrückender Alltag

Im Gegensatz dazu stehe der Alltag von vielen Studierenden, der häufig durch finanzielle Unsicherheit belastet sei, so Toni. Eine Studie des Statistischen Bundesamts aus dem letzten Jahr bestätigt seine Sicht. Demnach sind mehr als ein Drittel der Studierenden armutsgefährdet. Genau hier will das neue Bündnis mit konkreten Forderungen anknüpfen: Die aktuelle Lage der studentischen Beschäftigten an der Universität müsse überwunden werden, da sie durch befristete Arbeitsverträge geprägt ist. Es brauche eine einheitliche und gute Bezahlung nach einem Tarifvertrag. Dann könne sich auch politisch anders behauptet werden, weshalb Toni betont: „Es geht nicht nur um ein Bewusstsein für die Prekarität, sondern auch um den Eintritt in den Kampf für eigene Interessen.“ Hierfür sei politische Organisation notwendig.

Auf die Frage, inwiefern ihre Wünsche nach Veränderung, antwortet Toni lachend: „Wir haben uns absurd viel vorgenommen.“ Sie finden trotzdem, dass sich die Arbeit gelohnt hat, denn ohne sie gäbe es jetzt keine Gespräche über ihre Forderungen mit der Universitätsleitung. Selbst der Rat der Philosophischen Fakultät spricht sich jetzt dafür aus, Möglichkeiten für den Erhalt des Lehrstuhls zu prüfen. Vorher war er es, der für die Abschaffung stimmte. Dementsprechend sagt Toni: „Im Kampf liegt der Wert.“ Dabei helfe es, den utopischen Blick für länger dauernde Veränderungen mit konkreten Vorhaben zu verbinden. Ein greifbarer Traum scheint also als ein Schutz vor möglichen Enttäuschungen wirken zu können.

Wo lässt sich politische Selbstwirksamkeit finden?

Nach einem kurzen Klopfen an ihrer Tür bittet Silke van Dyk zum Gespräch in ihr Büro. Sie ist Professorin für politische Soziologie und hat sich bereit erklärt, über den gesellschaftlichen Kontext der Hörsaalbesetzung zu sprechen. Im historischen Vergleich gebe es an der Universität heute ruhigere politische Auseinandersetzungen als während der 68er-Bewegung oder in den 90er-Jahren. Das hat nach van Dyk unterschiedliche Gründe: Mit der Bologna-Reform hat sich für viele der Rahmen des Studiums geändert. Hinzu kommt eine veränderte finanzielle Lage. Sie kann zudem gut nachvollziehen, dass Gremien der Universitätspolitik nicht die beliebtesten Orte seien, um politische Selbstwirksamkeit zu erfahren, da sie selten weitreichende Möglichkeiten der Mitgestaltung bieten. Dem Wunsch, studentische Interessen bei zentralen Entscheidungen politisch durchzusetzen, stehe trotz verbesserter Mitbestimmung nicht selten eine professorale Mehrheit gegenüber. Gleichzeitig betont van Dyk, dass der universitäre Raum an Qualität gewinne, wenn sich Studierende politisch einsetzten. Darüber hinaus habe die Hörsaalbesetzung gezeigt, dass politisches Engagement an der Universität jenseits der hierfür vorgesehenen Gremien möglich sei.

„Wie kann eine Verstetigung von Protest aussehen?“

Die Hörsaalbesetzung sieht van Dyk dementsprechend als ein gutes Beispiel für die Artikulation politischer Interessen, die über die studentischen Gremien hinausgeht und somit ein zentrales Zeichen für eine lebhafte und demokratische Hochschule ist.


Nachdem die Hörsaalbesetzung beendet und das Bündnis gebildet wurde, ist für van Dyk entscheidend: „Wie kann eine Verstetigung von Protest aussehen?“ Darin sieht sie eine Herausforderung. Aus der Forschung zu sozialen Bewegungen wisse sie, wenn Protesten ein öffentlicher Ort verloren geht, braucht es weiterhin Anstrengungen, um die öffentliche Aufmerksamkeit für das eigene Anliegen aufrechtzuerhalten. Aus der Vergangenheit lasse sich lernen.

Während der Recherche wurde klar: Über Enttäuschungen wird im politischen Raum selten offen gesprochen. Ist das nun enttäuschend? Möglicherweise täuscht auch die Erwartung, mit Personen offen über ihre unerfüllten Wünsche sprechen zu können. Immerhin geht es um den Kampf für die eigene Sache – Wille ist dafür gefragt, nicht ein einfacher Wunsch, der enttäuscht werden kann. Es scheint, als sei vor der Utopie eine schwere Tür, und manchmal bedarf es zum Öffnen weniger eines schüchternen Klopfens, sondern eher eines kräftigen Rucks.

Hinter der Geschichte:

Der vorliegende Artikel ist Teil des CaMeTa Staffellaufs. Zwischen dem 23. Januar und 12. Februar veröffentlichen unterschiedliche Campusmedien aus ganz Deutschland Beiträge zum Thema (Ent-)täuschung. Dieser Artikel bildet mit dem Thema „politische Enttäuschung” den Anfang,  bevor das Akrützel morgen den Staffelstab weiter gibt an die Bamberger Studierendenzeitschrift Ottfried

Sie schreiben einen Text über „Die Kunst der Täuschung – Täuschen als Beruf in Zauberei und Synchronisation.“

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