Kein Platz für Räder

Jenas Verkehrswende rollt nur stockend. Wenn Verkehrsvisionen zwischen die Räder generationaler, ideologischer und parteipolitischer Ideale geraten, kommt keiner richtig vorwärts.

von Götz Wagner und Vincent Kluger

Herzklopfen kostenlos. Foto: Vincent Kluger

Verkehrsplanung in Jena ist, wie mit dem Fahrrad den Magdelstieg hochzufahren: Verdammt anstrengend. Denn der Platz reicht einfach nicht aus. Die Stadt liegt zwischen steilen Hängen, sodass sich die vielen Straßen irgendwie in das Tal quetschen müssen. In der DDR wurden zudem Infrastruktur und Häuser für nur zehn Prozent des heutigen Autoverkehrs angelegt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich der Pendlerverkehr jeden Tag durch die Stadt quält. An das Fahrrad hat damals schon niemand gedacht. Deshalb wird jedes neue Bauprojekt ein Kampf um die Straße, ein Kampf um den Platz.

Platzangst im Verkehr

Laut einer Untersuchung des Umweltbundesamtes liegt die Hälfte aller Wege, die mit dem Auto gefahren werden, unter fünf Kilometern – eine Strecke, die sich wunderbar mit dem Rad bewältigen lässt. Zudem könnten sich 60 Prozent der Deutschen eigentlich vorstellen, mehr Fahrrad zu fahren. Doch warum lassen dann nicht alle ihr Auto zuhause stehen? „In Jena fahren insbesondere Menschen, die am Hang wohnen, weniger Fahrrad, durch Pedelecs hat das aber zugenommen“, sagt Dr. Barbara Albrethsen-Keck, die Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs in Jena. Der ADFC ist die wichtigste Lobbygruppe,
die sich für die Verkehrswende zu Gunsten des Rads einsetzt.

Das große Problem sind laut Albrethsen-Keck aber nicht die Berge: „Die Stadt ist ihnen zu eng und sie möchten da lieber nicht mit dem Fahrrad lang fahren.“ Nach einer Studie im Auftrag des ADFC fühlen sich 47 Prozent aller Menschen in Deutschland nicht sicher beim Radeln. Das hat vielfältige Gründe: zu viel Verkehr, zu wenig separate Radwege und rücksichtslose Autofahrer. Willkommen in Jena.

Auf dem Papier setzt sich die Stadt schon seit 2013 verstärkt für den Fahrradverkehr ein. Schon damals wurde ein Radverkehrskonzept vom Stadtrat beschlossen. „Mutige Entscheidungen seitens der Stadt sucht man jedoch immer noch vergebens“, findet Albrethsen-Keck. In den letzten Jahren ist den Jenaer:innen das Thema Fahrradverkehr immer wichtiger geworden.

Der ADFC organisiert jeden Monat eine Fahrraddemo, die sogenannte Critical Mass. Und so konnten die Radfahrer:innen schon einen großen Erfolg feiern: Ein Bündnis aus verschiedensten Organisationen brachte im Juli 2021 das Volksbegehren Radentscheid auf den Weg. Forderungen waren zum Beispiel ein durchgängiges Radverkehrsnetz und baulich vom Autoverkehr getrennte Radwege. Das Interesse war so groß, dass Oberbürgermeister Thomas Nitzsche die Forderungen in eine Beschlussvorlage aufnahm und im Stadtrat einbrachte. Bis Sommer 2023 soll ein Radverkehrsplan erarbeitet werden.

Die Stadt selbst hat seit einigen Jahren auch ein Gremium eingerichtet, um der Verkehrswende Schub zu geben. Der Beirat für Radverkehr überwacht Baumaßnahmen und gibt dem Stadtrat Hinweise und Beurteilungen. „So können wir konkrete Gegenvorschläge machen“, sagt Lutz Jacob, Vorsitzender des Beirates. Einmal im Monat treffen sich rund 20 Leute: Bürger, Verbände und die Fraktionsabgesandten des Stadtrates. Im Gremium stehen vor allem fachliche Fragen im Vordergrund: Welche Beschilderung ist angemessen? Kann man an Kreuzungen bessere Sichtverhältnisse schaffen? 

Die konservative Ecke

Die wichtigen politischen Entscheidungen werden dann im Stadtentwicklungsausschuss getroffen. Dort stimmen die Abgeordneten nach Sitzverteilung im Stadtrat für oder gegen Infrastrukturmaßnahmen.

Der Verkehrswende steht dann eigentlich nichts mehr im Weg – im Stadtrat gibt es eine linke Mehrheit. Doch wer hätte es gedacht: Gerade die Linkspartei blockiert. Für den älteren Teil der Fraktion soll das Auto das wichtigste Fortbewegungsmittel bleiben. Dadurch unterstützt die Linke die Vision der FDP und der CDU. Die Kritik der Grünen lautet: „Die konservative Ecke vertritt die Idee, dass die Verkehrswende nur eine Antriebswende sein müsse.“ 

Gegenwind zur Verkehrswende weht jedoch auch aus einer anderen unerwarteten Ecke. Der Behindertenbeirat der Stadt lehnt den Ausbau des Fahrradverkehrs ab. „Für behinderte Menschen ist vor allem der nicht motorisierte Verkehr eine Gefahr“, findet Michael Schubert von der FDP, Vorsitzender des Behindertenbeirates. „Insbesondere parkende Fahrräder auf den Gehwegen sind ein Problem.“ Mehr Platz für Fahrräder bedeute, dass Menschen mit Behinderung nicht mehr ihre Arztpraxen mit dem Auto erreichen könnten.

Albrethsen-Keck versteht diese Argumentation überhaupt nicht: „Warum hat diese Interessengruppe mehr Angst vor dem Fahrrad als vor dem Auto?“ Es wäre mehr Platz für den wirklich wichtigen Verkehr da, wenn es weniger Autoverkehr gebe. Außerdem würden behinderte Menschen sowieso einen Behindertenausweis besitzen, der ihnen Ausnahmerechte im Verkehr bereitstelle. Die Grünen erheben deshalb den Vorwurf: „Die FDP nutzt den Vorsitz in diesem Beirat dazu, die Verkehrswende hin zur autofreien Stadt zu sabotieren.“ 

Verkehrswende um 360 Grad

Und es geht noch weiter. Ein von der FDP eingebrachter Beschluss des Stadtrates möchte alle Verkehrsbeiräte, unter anderem den Beirat für Radverkehr, in einem Mobilitätsrat zusammenfassen. Für Lutz Jacob ist klar: „Der Radentscheid und die Arbeit des Beirates haben den konservativen Widerstand geweckt.“ Im Mobilitätsrat wäre dann eine starke Autolobby vertreten und politische Fragen würden vom Stadtrat in den Beirat verschoben. So solle dem Fahrradbeirat Einfluss genommen werden. Auf diese Beschuldigung reagiert Schubert aalglatt. Es solle nur die Perspektive von Fußgängern gestärkt werden.

Das Problem der mit Autos überfüllten Stadt scheint zumindest erkannt worden zu sein. Alle Fraktionen haben das gleiche Ziel: die Verkehrsberuhigung der Innenstadt. Dafür hat die konservativ-linke Mehrheit im Stadtrat ein Verkehrskonzept aus den 90er Jahren ausgegraben. Die Osttangente, die Straße, die an der Bahntrasse vom Paradiesbahnhof bis zum Wiesencenter verläuft, soll verbreitert werden. Aus zwei Spuren pro Richtung werden dann vier. Das Planungsverfahren läuft schon seit Jahren, immer wieder gibt es Verzögerungen. Im Herbst wurde der Vorschlag im Stadtrat endgültig angenommen.

Laut Schubert dient die Erweiterung der Osttangente der Umleitung des Pendlerverkehrs um die Innenstadt und der Verhinderung von Stau. Deshalb gebe es auch einen guten Klimaeffekt: „Fließender Verkehr ist eigentlich ein gutes Mittel, um CO2-Emissionen zu senken oder zumindest nicht zu erhöhen.“ Der ADFC widerspricht diesem Punkt: „Der Ausbau der Osttangente würde den Autoverkehr induzieren.“ Mehr Platz für Autos bedeute demnach, dass mehr Menschen jeden Tag ins Auto steigen, weil es einfacher sei, jedes Ziel mit dem Auto zu erreichen. Das führe am Ende dazu, dass der Status quo erhalten bleibt. Die Autos bleiben im Verkehr stecken und die Innenstadt kann nicht verkehrsberuhigt werden.

Die Stadt möchte sich das ganze Projekt 31 Millionen Euro kosten lassen. Die Grünen sehen darin ein großes Problem. Die Stadt sei finanziell nicht belastbar. Außerdem stehe der Klima-Aktionsplan 2035+ in Gefahr. Das Geld, das in veraltete Konzepte gesteckt werde, fehle am Ende im Kampf gegen den Klimawandel – dem sich die Stadt eigentlich verpflichtet hat. 

Zu einem positiven Fazit zur Verkehrswende in Jena können sich weder Jacob noch Albrethsen-Keck durchringen. „Trotzdem ist in den letzten 20 Jahren vieles besser geworden.“ Eins bleibt: Der Radentscheid hat echte Ergebnisse erzielen können. Im Jahr 2023 sollen allein 700.000 Euro für kleinere Radverkehrsmaßnahmen ausgegeben werden. Das gibt Hoffnung. 

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