Warten auf die Revolution

In Jena entsteht eine neue Protestkultur. Die Uni ist besetzt, auf den Straßen fordert IG Metall
höhere Löhne und in den Stadtteilen entstehen Nachbarschaftszentren.

Sinan Kücükvardar und Johannes Vogt

Die Kundgebung auf dem Campus fordert den Erhalt der Geschlechtergeschichte. Foto: Pauline Schiller

Ein Hauch von `68 liegt in der Luft. Hörsaal 1 ist besetzt. Schon Wochen zuvor durchzieht das Gerücht einer Besetzung Jenas politische Szene – selbst der Präsident der FSU bekommt davon Wind, erzählt er im Interview. Nachdem sie eine Kundgebung auf dem Campus beenden, setzen Aktivist:innen den Plan in die Tat um. Sie hängen Plakate an die Wände, holen Sofas von der Straße und schmücken den Raum mit Lichterketten. Am Abend gibt es sogar kostenloses Essen. Ab sofort steht dieser Hörsaal unter studentischer Selbstverwaltung. Hier soll das passieren, was sie wollen. Unabhängig von Unileitung und Dozierenden.

Ein paar Tage später findet in Jena-Nord der dritte Stadtteiltreff statt. In kleiner Runde diskutieren Nachbar:innen miteinander. Sie schlossen sich im Zuge der Energiekrise zusammen, um sich in ihrer Nachbarschaft zu vernetzen und sich gegenseitig zu unterstützen. Der Stadtteiltreff Jena-West stellte sich der Öffentlichkeit auf einer Demo von NichtMitUns vor, einem regionalen Bündnis aus Gewerkschaften und der Klimagerechtigkeitsbewegung. Spontan fanden sich Menschen zusammen, um dasselbe in Jena-Nord zu initiieren. An verschiedenen Orten sprießen politische Gruppierungen aus dem Boden. Basisarbeit ist die grundlegende Strategie, um sich zu vernetzen und neue Bündnisse zu schmieden.
Auch in anderen Städten, wie Regensburg, Augsburg, Wien und Berlin, besetzten Studierende Räume der Universität. Dort lag der ökologische Wandel im Zentrum des Protests. In Erfurt ließen sich einige dutzend Aktivist:innen in der Bibliothek nieder und richteten sich mit ihrer Forderungen nach längeren Öffnungszeiten gegen den Sparkurs der Uni – bis die Polizei anrückte. Vernetzt seien diese Proteste nicht, erzählt Nico. Er studiert in Jena Soziologie und übernimmt Pressearbeit für die Besetzung. Allerdings sei es kein Zufall, dass momentan bundesweit Universitäten besetzt werden. Wenn man immer wieder davon höre, komme man auch eher auf die Idee, das Gleiche zu machen.

Die Besetzung

Der Auslöser für die Proteste in Jena ist die Streichung des Lehrstuhls Geschlechtergeschichte. Nach der Pensionierung ihrer Inhaberin, Gisela Mettele, soll dieser 2025 nicht neu vergeben werden. Die Philosophische Fakultät will nämlich die Professur für Digital Humanities verstetigen, weshalb an anderer Stelle gespart werden muss.

Der Dekan der Fakultät, Christoph Demmerling, richtete dafür eine Strukturkommission ein. In nichtöffentlichen Sitzungen kam sie zu der Entscheidung, dass ein Lehrstuhl gehen muss. Zwei standen zur Auswahl: Geschlechtergeschichte und Mittellatein. Am Ende entscheidet sich der Fakultätsrat gegen Geschlechtergeschichte.

Sie setzen vor allem die Unileitung unter Druck, die die Forderungen teilweise gar nicht umsetzen kann.

Das geringe Mitspracherecht der Studierendenschaft ist laut den Besetzer:innen problematisch. Ein Großteil der Entscheidungen wurde in Sitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit besprochen. Im Fakultätsrat müssen Hochschullehrer:innen außerdem bei Fragen von Neubesetzungen die Mehrheit bilden. Das ist im Thüringer Hochschulgesetz vorgeschrieben. Für Vertreter:innen der Studierendenschaft sind nur drei von 17 Stimmen vorgesehen. Ein Sturabeschluss, der sich für den Erhalt der Geschlechtergeschichte aussprach, habe zudem nichts bewirkt, sagt Nico. Der Protest übersteige aber auch diese Probleme. Sie fordern daneben beispielsweise landesweite Tarifverträge für studentische Angestellte, wie es sie in Berlin gibt.

Direkt am ersten Tag der Besetzung bietet die Universitätsleitung ein Gespräch an. Zwei Tage später nehmen die Besetzer:innen dieses wahr und treffen sich unter anderem mit dem Universitätspräsidenten und dem Kanzler. Beide Seiten gaben danach bekannt, wie wichtig die Forschung der Geschlechtergeschichte sei. Die Unileitung macht das Angebot, eine entsprechende Themenwoche zu veranstalten. Das reicht den Besetzer:innen jedoch nicht. Sie wollen bleiben. Montags verändert die Uni deshalb ihre Strategie und fordert die Besetzer:innen auf, bis Dienstag den Hörsaal zu verlassen. Sonst wäre man nicht weiter für Gespräche bereit. Bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe blieb alles weitere offen. Bisher schloss Thoralf Held, Kanzler der FSU, eine Räumung eindeutig aus.

Der Präsident, der Kanzler und der Dekan der Philosophischen Fakultät vor Ort. Foto: Pauline Schiller

Der Protest und die Forderungen haben unterschiedliche Adressaten. Sie setzen vor allem die Unileitung unter Druck, die die Forderungen teilweise gar nicht umsetzen kann. Die Studierendenschaft ist zwar im Studierendenrat repräsentiert und organisiert, aber bei Dingen, die über die Verwaltung der eigenen Finanzen hinausgehen, ist die studentische Mitbestimmung begrenzt. Das legt das Thüringer Hochschulgesetz fest. Ähnliches gilt für die geforderten Tarifverträge. Diese können nur auf Landesebene ausgehandelt werden, nicht zwischen Studierenden und der Hochschule. Auch das entzieht sich also der Entscheidungsmacht der FSU.

Die Proteste sollen sich deshalb nicht nur auf die Ebene der Uni Jena beschränken. Nico hofft, dass die Forderungen an das Thüringer Bildungsministerium gebracht werden können. Das sei möglich, wenn sich die FSU mit den Forderungen der Besetzung solidarisiere und sie an die nächsthöhere Instanz weitertrüge. Stattdessen scheint die Universitätsleitung an einem schnellen Ende der Besetzung interessiert zu sein.

Eine neue Bewegung

Das Gespräch mit der Universitätsleitung wird noch am selben Tag im Plenum ausgewertet. Seit 72 Stunden ist der Hörsaal besetzt. Es ist nicht mehr so voll wie am ersten Tag. Die Gruppe will ihre Forderungen klarer formulieren, um in Zukunft schlag- kräftiger verhandeln zu können. Doch es herrschen Unklarheiten. Es fehlt die Idee, wie Studierende mehr Mitbestimmung an Entscheidungen erhalten, die sie unmittelbar betreffen. Die konkreten Forderungen geraten so in den Hintergrund. Stattdessen rückt die Besetzung als Möglichkeit zur Politisierung in den Vordergrund. Sie wollen einen Raum schaffen, in dem Menschen überhaupt erst gemeinsame Interessen entdecken. ,,Hier entsteht nur das, was ihr draus macht!“ Es geht um eine neue Art des Protests, der der Funke einer neuen Bewegung sein könnte.

Es geht darum, die Studierendenschaft aus ihrem politischen Coronaschlaf zu wecken.

Die Frage nach neuen Organisationsformen findet sich in vielen Initiativen der linken Szene Jenas wieder. So versucht NichtMitUns, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft zusammenzubringen. Die IG Metall plant hier Seite an Seite mit Klimaaktivist:innen Demonstrationen. In einigen großen Städten Thüringens hat die Initiative in den letzten Monaten zahlreiche Menschen auf die Straße gebracht, die sich mit gewerkschaftlichen Forderungen solidarisieren.

„Die Krisen des Kapitalismus, die bisher immer durch mehr Wachstum kompensiert wurden, führen zwangsläufig zur ökologischen Katastrophe. Das ist für Gewerkschaften eine Situation, in der sie sich fragen müssen, ob sie so weitermachen können wie bisher.“, sagt Christoph Ellinghaus, der erste Bevollmächtigte der IG Metall Jena-Saale Gera. Die Lösung dieser widersprüchlichen Lage sieht er in eben solchen Bündnissen. So könnten soziale und ökologische Probleme zusammengedacht werden. Ellinghaus macht deutlich, dass nachhaltige und einflussreiche Gewerkschaftsarbeit nur dann funktioniert, wenn die Zivilgesellschaft Streiks und Besetzungen von Betrieben durch Arbeiter:innen breit unterstützt. Dieses Bündnis existiert aber in Deutschland noch nicht.

Frisch aufgehängte Banner. Foto: Pauline Schiller

Das liegt nicht nur an der Schwäche der deutschen Gewerkschaften, sondern auch daran, dass sich zu wenige Leute aktiv beteiligen; sei es in politischen Organisationen selbst oder auf der Straße. Fridays for Future Jena hat nach eigenen Angaben einen festen Kern von ca. zehn Menschen, in einer Stadt mit 100.000 Einwohner:innen, 20.000 Studierenden und als lokaler Ableger einer Organisation, die vor dem Beginn der Coronakrise hunderttausende junger Menschen auf die Straße brachte.

Arbeit an der Basis

Einige Aktivist:innen wollen diesem Trend entgegenwirken: In mehreren Stadtteilen Jenas entstehen Stadtteilzentren. In Lobeda, Süd, West und Nord vernetzen sich Anwohner:innen miteinander und formulieren gemeinsame Interessen, um sich in Zeiten steigender Preise gegenseitig zu unterstützen. ,,Wenn wir irgendwo anfangen, brauchen wir erst einmal Orte, wo Menschen zusammenkommen und ein Verständnis dafür entwickeln, dass sie ungefähr dieselben Interessen haben“, sagt Moritz* vom Stadtteilzentrum Nord. Die Stadtteilzentren sollen diese Vernetzung vorantreiben. Menschen, die am selben Ort leben, können ohne große Hürden zusammenkommen und sich austauschen. Die Hörsaalbesetzung reiht sich in diese neuen Formen der Mobilisierung ein. Der Wunsch der Besetzer:innen, einen politischen Raum zu schaffen, zeigt, dass es um mehr geht als die Umsetzung der konkreten Forderungen. Es geht darum, die Studierendenschaft aus ihrem politischen Coronaschlaf zu wecken.

Revolution zu zehnt

In der Leipziger Straße trifft sich währenddessen das Stadtteilzentrum Nord. Beim ersten Mal kamen noch 50 Menschen zusammen. Heute sind sie zu zehnt. Deshalb kommt die Frage auf, was man unter diesen Umständen überhaupt noch leisten könne. Nach zwei Stunden steht der Plan: Sie wollen einen Glühweinstand organisieren. Darauf beschränkt sich Basisarbeit, wenn die Leute fehlen. Moritz ist trotzdem zufrieden. Gerade im Osten fehle zivilgesellschaftliche Strukturen, die nicht von heute auf morgen geschaffen werden könnten. Auch die Besetzer:innen wollen mehr Studierende einbinden und politisieren. Dafür gründeten sie extra die AGMobi: „Wir sprechen aktiv Leute an, die gerade eine Vorlesung im Raum hätten, und ermutigen sie mitzumachen“, sagt Nico. Ob diese Strategie der Raumschaffung klappt, hängt nicht nur von den Aktivist:innen selbst ab. Der Rest der Studierendenschaft muss sich auch bewegen.

In vielen Teilen dieser neuen Initiativen findet man immer wieder dieselben Gesichter. Ein paar wenige engagieren sich mit der Hoffnung, dass alle anderen irgendwann dazukommen. Wenn es darum geht, spezifische Aufgaben zu übernehmen, fehlen oft die Kapazitäten. Es braucht mehr Schultern und Hände, um nachhaltig eine neue Demokratie zu tragen. Ob sie nun der Startschuss für eine neue Welle der Mo- bilisierung sind oder doch mit dem Erreichen kleiner Ziele verschwinden, bleibt abzuwarten.

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