Seit der Entscheidung der Philosophischen Fakultät, den Lehrstuhl Geschlechtergeschichte zu streichen, wird von mehreren Seiten fortdauernd Widerspruch eingelegt. Nun ging es aus dem verbalen Protest in die Offensive. Eine Rekonstruktion der ersten drei Tage im besetzten Hörsaal 1.
von Vicente Jiménez Liebscher und Henriette Lahrmann
Eine für Mittwochmittag, den 30.11.22 vom Kollektiv „Geschlechtergeschichte bleibt” angesetzte Kundgebung auf dem Campus, endet in der Besetzung des Hörsaal 1. Kurz vor und während der Veranstaltung teilen die Initiatorinnen Flyer und schmale Zettel aus, die zu einem “gemeinsamen und geschlossenen” Gang in diesen aufrufen.
Ohne großes Zögern und von Trommelschlägen begleitet, begibt sich die Gruppe von ca. 300 Studierenden in die Universität. Innerhalb von wenigen Minuten befindet sich der Raum in der Obhut der Besetzung; schnell befestigen die Organisatorinnen mehrere Transparente. An erster Stelle steht die Erhaltung der Geschlechtergeschichte, gefolgt von der Forderung einer „Demokratisierung der Universität”, der Positionierung „gegen den Rechtsruck” sowie das Verlangen nach einer Besserung der ökonomischen Situation der Studierenden.
Unmittelbar nach der Besetzung findet sich die Universitätsleitung im Hörsaal ein, bestehend aus dem Präsidenten Walter Rosenthal, dem Dekan der Philosophischen Fakultät, Christoph Demmerling, dem Kanzler Thoralf Held und der Hochschulkommunikationssprecherin Katja Bär. Ihr zügiges Erscheinen soll die Bereitschaft für ein gemeinsames Gespräch darstellen. In einem Interview mit dem Akrützel am selben Nachmittag zeigt sich die Universitätsleitung zu der Besetzung wenig überrascht. Der Präsident der FSU, Walter Rosenthal versteht, dass die Entscheidung von den Besetzenden hinterfragt wird, aber weist wiederholt auf die fakultätsinterne Entscheidung hin.
Die Veränderung
Im Laufe des Nachmittags richten sich die Besetzenden im Saal ein. Sie tragen Sofas heran und funktionieren die vier JENA-Buchstaben als Regal um. Das Ziel ist es, einen gemeinsamen Ort für Studierende zu schaffen, in dem sich alle wohlfühlen. Die Bewegung sieht sich in der Verantwortung, einen Raum zur Politisierung zu schaffen. Kleine Gruppen konkretisieren die Forderungen weiter aus, bereiten Vorträge vor, halten Plena oder klären organisatorische Erforderlichkeiten.
Sprecherinnen bieten Inhalte zum Thema Geschlechtergeschichte an. Um 19 Uhr wird eine Küfa angeboten – eine Küche für alle. Später soll es noch eine Party geben – ohne Alkohol und Konsum jeglicher illegaler Substanzen. Um ein Uhr nachts endet der kleine ‘Rave’ auf dem Podium; die Mehrheit der Menschen verlässt den Hörsaal. Kurz danach ziehen sich die Verbliebenen auf die mitgebrachten Matratzen und Sofas zurück und die Nachtruhe beginnt.
Der Alltag
Der zweite Tag der Besetzung startet um Punkt acht Uhr. Mit dem akademischen Viertel erscheinen drei Studis – normalerweise findet um diese Zeit die Vorlesung „Basismodul Mathematik” statt.
Um 14 Uhr findet das nächste Plenum statt, in dem erstmals ein Gespräch mit der Unileitung angekündigt wird. Dazu kommen Zweifel auf, ob die Besetzung das Wochenende überdauert. Die Organisatorinnen appellieren, über Nacht zu bleiben, um den Raum zu halten. Außerdem debattiert die Versammlung erneut über den Alkoholkonsum, sie verwenden ein Drittel der Plenumszeit dafür. Am Ende einigen sie sich auf einen „bewussten und bedachten Konsum”.
In Zukunft sollen täglich zwei Plena im Hörsaal stattfinden, einmal um 10 Uhr und das zweite um 18 Uhr.
Um 20 Uhr beginnt der gemeinsame Filmabend, wo der Film „Rise up”, eine Dokumentation über erfolgreichen politischen Aktivismus auf der ganzen Welt der letzten Jahrzehnte, gezeigt wird.
Das Gespräch
Freitag, und damit der dritte Tag der Besetzung, beginnt mit einer Yoga-Session.
Eine erste Verhandlung ist zwischen der Universitätsleitung und vier Mitgliedern der „Verhandlungs-AG” für 12:30 Uhr angesetzt und findet nicht im öffentlichen Raum statt. Erste Ergebnisse werden um 18 Uhr im Plenum bekannt gegeben. Die Universitätsleitung bemerke, dass es nicht die Mehrheit der Studierenden sei, die den Erhalt der Geschlechtergeschichte fordere. Sie verlangen, den Raum zum Anfang der Woche wiederzuerhalten drohen aber nicht mit einer Räumung. Auch die Universitätsleitung berichtet in der Story auf ihrem Instagramkanal, dass der Hörsaal 1 bis Montag besetzt sein wird. Die Besetzer sind jedoch darauf bedacht, länger zu bleiben, vorausgesetzt sie überstehen das Wochenende aufgrund der geringen Anzahl der Personen, die sich beteiligen. Die Motivation und das Engagement seien kein Problem, jedoch wären viele der Beteiligten über das Wochenende nicht da.
Im Plenum wird das Ziel des Wachstums priorisiert, dafür sollen verschiedene Leute außerhalb der eigenen politischen Blase gewonnen werden. Die Universitätsleitung begrüßt die Politisierung der Universität. Inhalte der Geschlechtergeschichte sollen an der FSU weiter von Lehrenden übernommen werden. Die Fakultät untersuche momentan noch die Vergabe für explizite Lehraufträge.
Ein weiteres Verhandlungsgespräch ist für Anfang nächster Woche angesetzt.
Das Wochenende
Fernab wird im Plenum organisiert; einige Repräsentantinnen einzelner AGs fehlen jedoch, was die genaue Absprache erschwert. Dazu feilen die Teilnehmenden des Plenums an den Forderungen und streben die Präzisierung der eigenen Werte an, um einheitliche Antworten zu formulieren. Sie können keine genaue Einigung finden und vertagen die Diskussion.
Gegen 19:30 Uhr kommt das Plenum zum Ende. Die Küfa versorgt die Anwesenden mit Essen, bevor im Anschluss ein Spieleabend stattfindet.
Für das Wochenende sind weitere Programmpunkte geplant. Samstagnachmittag soll es einen Vortrag zu Frauen und Queers in der DDR geben, für Sonntagabend laden die Aktivistinnen zum Poetry Slam ein.
Pingback: Woche acht: Erste Prüfung, eine Hörsaal-Besetzung und – was ist eigentlich 'Ethik'? – Dennis Schmolk