Zwei Himmelsrichtungen

Nie Ohne Seife Waschen – Norden, Osten, Süden, Westen. Vier Himmelsrichtungen, deren Anordnung schon in der Grundschule gelernt wird. In Jena scheint es manchmal nur den Westen und den Osten zu geben. Sind die Unterschiede von früher heute noch bedeutsam?

von Henriette Lahrmann und Alexandra Kehm

Wessi macht rüber. Foto: Lukas Hillmann

Wenn man aus Hamburg kommt, wird die Deutschlandkarte gerne in den Norden und in den Süden unterteilt. Es gibt Hamburg, die Nord- und Ostsee und es gibt den Süden. Der beginnt eigentlich schon ab Hannover. Umgekehrt funktioniert es genauso, wenn man aus Bayern kommt. Baden-Württemberg und Bayern bilden den Süden, alle Bundesländer nördlich davon sind der Norden. 

Aus norddeutscher Sicht gesehen liegt Jena im Süden, aus süddeutscher Sicht im Norden, nach Wikipedia ist Jena eine Großstadt Thüringens in der Metropolregion Mitteldeutschland. Angekommen in Jena merkt man schnell, dass die Frage in der Einführungswoche „Und, wo kommst du her?“, auf mehr hinaus will, als die Nennung von Göttingen oder Leipzig. Häufig will die fragende Person damit wissen, ob man aus dem Westen oder aus dem Osten kommt. Das Thema der Trennung zwischen der ehemaligen DDR und BRD scheint in den Köpfen von einigen Jenaer Studierenden noch heute eine Rolle zu spielen, es wird primär zwischen dem Osten und dem Westen unterschieden. Aus der naiven Sicht einer frisch gebackenen Abiturientin aus dem Westen, die für das Studium nach Jena gezogen ist, ist das schwer nachvollziehbar. Wie kann sie nach über 30 Jahren nach der Wiedervereinigung noch die Identität „Wessi“ besitzen?

Westdeutsche im Osten

Ähnlich ging es Valeska Bopp-Filimonov, Juniorprofessorin für Romanistik in Jena. Aufgewachsen in Lübeck, Abitur in Flensburg, begann sie Ende der 90er Jahre ihr Studium in Leipzig, wo sie von Kommiliton:innen als “Wessi” gesehen wurde. Zur Bewerbung für das Zukunftszentrum für europäische Transformation in Jena wird ein wissenschaftliches Symposium veranstaltet. Dort erzählt sie von ihrem Studium in einer Zeit des Umbruchs, in das sie aus heutiger Sicht mit einer oberflächlichen Perspektive auf das Thema gestartet sei.

Neben Bopp-Filimonov diskutieren Professor:innen aus verschiedenen Fachbereichen über die deutsche Einheit und den Wandel in Europa, vor allem mit Blick auf die Themen, die in Debatten zu Transformationsprozessen nicht fehlen dürfen. Unter ihnen auch Marcus Böick, Gastprofessor für Zeitgeschichte, der seit etwa 2010 ein erhöhtes Interesse von Historiker:innen an dem Thema beobachtet.
Als Grund für den Trend sieht er die steigende Distanz zu dem Ereignis und einen stattfindenden Generationswechsel, mit dem zusätzlich neue Quellen aufkommen. Böick wirft in den Diskurs, dass die deutsche Wiedervereinigung häufig von anderen Ländern wie Polen als Erfolgsgeschichte angesehen wird. Diese Ansicht wird jedoch von vielen kritisiert.

Wie kann sie nach über 30 Jahren nach der Wiedervereinigung noch die Identität „Wessi“ besitzen?

In einem Gespräch einige Wochen vor dem Symposium widerspricht Claus Suppe der Auslegung als Erfolgsgeschichte. Aufgewachsen als Heimkind in der DDR wurde ihm sein Berufswunsch Bäcker vom Staat unterbunden. Daraufhin entfernte er sich vom DDR-Staat, so weit, dass er sich Untergrundgruppen anschloss, um gemeinsam wöchentlich gegen das politische System auf die Straße zu gehen.

Die Hoffnungen der Wiedervereinigung

Suppe berichtet aus der Zeit nach der Wiedervereinigung von dem Empfinden großer Erleichterung, die gleichzeitig mit großen Hoffnungen verknüpft war. Diese seien aber leider nicht erfüllt worden. So machten Bekannte von ihm immer wieder schlechte Erfahrungen mit den „Wessis“, wodurch sich Vorurteile gebildet haben. Dabei verweist er auf die Misswirtschaft der Treuhand, durch die viele Ostdeutsche ihre Arbeit verloren. Obwohl Suppe sich selbst auch von dem Ost-West-Gefälle benachteiligt fühlt, distanziert er sich klar von den Vorbehalten und sieht das Problem in der Politik. Die einzige Möglichkeit, das Problem zu lösen, sieht er im Erreichen sozialer Gerechtigkeit in Ost- und Westdeutschland.

Ebenfalls im Thüringen der 50er/60er Jahre aufgewachsen ist Karola Dürer. Sie ist pensionierte Bankkauffrau und kennt das Thüringen von damals wie heute. Auch Dürer distanziert sich vom damaligen sozialistischen Staat. Aufgrund ihrer Verbindungen mit der evangelischen Kirche hat sie wenige gute Erinnerungen an die DDR. Sie erwähnt aber auch, dass Frauen in der sozialistischen Gesellschaft noch eher einen gleichwertigen Status hatten als im wiedervereinigten Deutschland.

Entwicklung oder Fortschritt

Zu Geschlechterverhältnissen zwischen West- und Ostdeutschland forscht an der FSU die Soziologieprofessorin Sylka Scholz. Beim Symposium spricht sie von einer durch die Arbeitergesellschaft bedingte pragmatische Vaterrolle in der DDR. Dadurch, dass beide Eltern berufstätig waren, musste die Hausarbeit aufgeteilt werden. Zeitgleich wurde es in der BRD als modern angesehen, wenn Väter sich an der Care-Arbeit beteiligten. Sie betont einen gravierenden Unterschied zwischen ostdeutschen Frauen, welche die Entwicklung der Geschlechterrollen als ihren natürlichen Fortschritt verstehen, und westdeutschen Männern, die sie als Modernisierung auffassen.

Für Dürer sind trotz der vergangenen 30 Jahre die Unterschiede der beiden ehemaligen deutschen Staaten noch heute sichtbar, vor allem durch die unterschiedliche Sozialisation der Menschen im Westen und Osten. Sie geht für die Zukunft davon aus, dass die gesellschaftlichen Unterschiede Bestand haben werden, solange Menschen ihrer Generation die jüngeren Jahrgänge weiter beeinflussen könnten. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen erkennt sie auch in ihrer eigenen Familie, die zum Teil in Westdeutschland wohnt. So ist sie davon überzeugt, dass ihre Enkelin einen anderen Blick auf die Welt hätte, wenn sie im Osten aufgewachsen wäre.

Ostdeutsche im Osten

Welchen Blick haben jüngere Menschen aus Ostdeutschland auf Unterschiede zwischen West und Ost, wenn doch die Mauer schon lange vor ihrer Geburt gefallen ist? Für Lina, eine Studentin der EAH, die ursprünglich aus Erfurt kommt, spielen die Differenzen persönlich keine Rolle. Wenn ihre Eltern aber von „neuen Wessis“ in ihrer Nachbarschaft berichten, die wieder ein großes teures Grundstück kaufen, und ihre Oma am liebsten nur Produkte aus dem Osten kauft, sieht sie einen Unterschied, den sie auch in ihrem Leben spürt.

Lina hat sich zwar nicht bewusst gegen ein Studium in Westdeutschland entschieden, fühlt sich aber mit ihrem Studium in Jena sehr wohl. Unbewusst hätten ihre Eltern ihre Entscheidung wahrscheinlich auch mit beeinflusst, vermutet Lina. Die Familie wohnte während ihrer Kindheit kurzzeitig in Dortmund. Dort war ihre Mutter mit ihrer Vollzeitstelle eine Ausnahme unter den anderen Müttern, für die sie von einigen auch kritisiert wurde. 

Neben Lina hat sich auch Jim dazu geäußert. Er kommt aus der Nähe von Zwickau und studiert ebenfalls in Jena. Im Gespräch erzählt er, dass er vor allem wegen der geographischen Nähe zu seiner Familie hier studiere, er hätte sich aber auch vorstellen können, nach Bayern zu gehen. Nach dem Studium möchte er gerne in Jena bleiben. Die Stadt biete ihm viele Möglichkeiten und die Bevölkerung sei deutlich jünger als in Zwickau.

Hinterfragen gegebener Konstellationen

Aus dem Westen neu nach Jena gezogene Studierende, die sich aufgrund fehlender Berührungspunkte in ihrem bisherigen Leben nie wirklich mit den Unterschieden auseinandergesetzt haben, sollten spätestens jetzt damit anfangen. Beginnen könnte man damit, zu hinterfragen, warum nach der Wiedervereinigung viele Westdeutsche immer noch lieber im Westen studieren und sich Vorurteile, wie dass im Osten der Großteil die AfD wählt, konstant halten können.

Selber eine Simson zu fahren, als Kind das Sandmännchen geschaut zu haben und sich heute über die ostdeutschen Ampelmännchen zu freuen, ist nicht dasselbe, wie sich wirklich mit den historisch tief verankerten Unterschieden beschäftigt zu haben. Wie Böick im Symposium anmerkt, gibt es auch im Jahr 2022 noch fortbestehende Asymmetrien unter anderem in der Elitenbesetzung  in Ost- und Westdeutschland. Allein bei der Betrachtung der FSU mag für viele daher wenig überraschend sein, dass an ihrer eigenen Spitze ein Präsident aus Siegen in NRW sitzt.

Auch die Renten und Löhne sind im Osten immer noch niedriger. Es ist daher verständlich, dass einige Menschen Deutschland eher in zwei als in vier Himmelsrichtungen unterteilen, und dabei das durch die jüngste Vergangenheit entstandene Gefälle zwischen Ost und West nicht ausblenden können.

Schreibe einen Kommentar

*