Der Freund der kleinen Schritte

Klaus Dörre ist Professor für Arbeit-, Industrie-, und Wirtschaftssoziologie an der Uni Jena. Im Gespräch plädiert er für einen nachhaltigen Sozialismus, für eine Utopie, die unserer Gesellschaft gut täte. Das Ziel lautet Systemwandel.

Das Gespräch führten Johannes Vogt und Gustav Suliak

So groß muss Wandel sein. Foto: Johannes Vogt

Herr Dörre, müssen wir den Kapitalismus abschaffen, um die Umwelt zu retten?
Der Kapitalismus kann letztendlich nicht nachhaltig sein, deshalb braucht es eine nicht-kapitalistische Gesellschaft. Aber es gibt eine Menge Spielraum, das darf man nicht übersehen. Die Zeit für Veränderung drängt und die Kräfte, die den Kapitalismus überwinden wollen, sind in Europa so schwach wie seit 1945 nicht mehr. Alles-oder-Nichts-Positionen, die sagen: „Wir warten erstmal auf die große Systemtransformation“, halte ich für falsch.

Es gibt keinen nachhaltigen Kapitalismus?
Kapitalismus muss expandieren, um zu existieren. Das kann er nur, wenn er permanent Expansion auf Kosten eines nicht kapitalistischen Anderen betreibt. Das kann Land sein, das können aber auch Produktions- und Lebensweisen sein. Kapitalismus ist auf permanente Landnahmen angewiesen und je erfolgreicher diese Landnahmen sind, desto stärker unterminiert er selbst die Voraussetzungen der eigenen Expansion. Wenn es stimmt, dass Kapitalismus expandieren muss, um zu existieren, dann passt er nicht auf einen Planeten mit endlichen Ressourcen.

„Der Kapitalismus kann letztendlich nicht nachhaltig sein.“

Also müssen wir den Kapitalismus abschaffen, sonst geht die Welt unter?
Es reicht nicht, das nur zu wollen, dann ist das System weg. Der Kapitalismus lässt sich aber überwinden – strategisch bewusst und in härtesten Auseinandersetzungen mit den dominanten kapitalistischen Akteuren.

Wenn wir wollen, leben wir also in einer besseren Welt. Gibt es keine Systemzwänge?
Natürlich gibt es Zwänge. Zum Beispiel für Menschen, die von Lohnarbeit leben. Wenn man jetzt anfängt, den Arbeitern der Braunkohlenwerke vorzuwerfen, an der Eliminierung des Planeten zu arbeiten, dann mag das zwar durchaus stimmen – Braunkohleförderung und -verstromung ist schließlich einer der größten Klimakiller, aber die Menschen in der Region sind darauf angewiesen, ein Einkommen zu erzielen. Das ist ein Zwang, den man nicht einfach außer Kraft setzen kann. Arbeiter haben Sicherheitsinteressen und Ansprüche an ein gutes Leben. Diese Ansprüche sind oft andere als die von Klimaaktivisten. Wenn man beide Kräfte zusammenbringen will, muss man sich zumindest in die Köpfe derjenigen versetzen können, die Autos bauen, Braunkohle fördern oder am Bau großer Trassen beteiligt sind. Man muss ein Verständnis dafür entwickeln, dass Lohnabhängige nicht frei entscheiden können, was und wie sie konsumieren, was sie wo produzieren. Produktionsentscheidungen trifft eine Managerkaste in etwa 40.000 internationalen Konzernen, die Kontrollmacht über andere Unternehmen und häufig auch über Staaten haben. Wenn das nicht in Rechnung gestellt wird, kann man nicht die Kräfte entwickeln, den Kapitalismus zu überwinden.

Die Strategie vieler Staaten bleibt trotzdem, den Kapitalismus grün anzustreichen. Wird die Debatte über die Möglichkeit eines grünen Kapitalismus nicht ausreichend geführt?
stische Positionen voranzubringen. Das gelingt derzeit nicht. Selbst die Linkspartei scheut sich, die Systemfrage offen zu stellen. Aber in der Bevölkerung gibt es massive Gesellschaftskritik. Nach einer aktuellen Befragung in einem unserer Projekte glauben 72 % der Erwachsenen, dass unsere derzeitige Wirtschaftsweise auf Dauer nicht überlebensfähig ist. 89 Prozent sind der Ansicht, der gesellschaftliche Wohlstand könne gerechter verteilt werden. Diese alltägliche Gesellschaftskritik führt aber derzeit kaum zu progressivem kollektiven Handeln. Man glaubt einfach nicht, dass eine bessere Gesellschaft für alle möglich ist. Es gibt auch nicht die politischen Kräfte, die vermitteln könnten, dass es geht.

„Die sozial-ökologische Transformation müsste ein fächerübergreifendes Kernfach werden.“

Fehlt es an einer positiven Vision?
Ja, es fehlt an Utopien, die zeigen, dass die Transformation zu einer besseren Welt führen kann. Stattdessen setzt man neben Aufklärung eher auf individuellen Verzicht. Das ist alles nicht so schrecklich attraktiv. Eine Gesellschaft, die nur von apokalyptischen Bildern lebt, kann nicht überleben. Ich glaube aber auch, dass es einen Wandel in der Wissenschaft braucht. Die Idee eines Natur- oder eines nachhaltigen Kapitalismus läuft auf eine Quadratur des Kreises hinaus. Das gleiche System, das uns in die sozial-ökologische Krise hineingebracht hat, wird jetzt als Lösung präsentiert. Eher kann man sich vorstellen, dass die Welt untergeht, als dass der Kapitalismus überwunden werden kann. Das ist fatal.

Haben wir genug Zeit, um auf den großen Systemwandel zu warten?
Es muss sich sehr schnell etwas ändern. Deshalb ist mein Plädoyer auch kleine Schritte in Richtung eines nachhaltigen Wandels zu gehen. Gleichzeitig müssen wir aber die Botschaft vermitteln, dass marktkonforme und technische Lösungen nicht ausreichen, dass sich die gesamte Gesellschaft radikal ändern muss. Bei jedem noch so kleinen Schritt müssen wir aber deutlich machen, dass es nicht reicht, vegan zu essen oder ab und zu auf das Auto zu verzichten. Nachhaltigkeit ist im Kapitalismus nicht zu machen, aber es gibt Spielräume. Das ist immer eine Gratwanderung.

Wir haben jetzt sehr viel über die Gesamtgesellschaft geredet. Kommen wir zu der FSU. Die Uni will jetzt bis 2030 klimaneutral werden. In der Zukunftswerkstatt wird dazu eine Nachhaltigkeitsstrategie entwickelt. Was halten sie davon?
Der Schritt ist erstmal gut. Bei uns and er Uni gibt es Unmengen an Fachwissen in unterschiedlichen Fachbereichen. Das Ziel muss sein, dieses Wissen zusammenzubringen und nutzbar zu machen. Gleichzeitig muss diese Transformation demokratisch sein und es darf nicht nur um ein gutes Image gehen.

Was wäre denn die ideale Rolle der Universität in einem sozialökologischen Transformationsprozess?
Es müssten Bauprojekte überprüft, radikale Schritte zur Wärmedämmung gemacht und Energieversorgung nachhaltig umorganisiert werden. Nachhaltige Bauprojekte dürfen nicht an langfristigen Verträgen mit Strom- und Wärmeanbietern scheitern. Da braucht es öffentlichen Druck, damit diese Projekte nicht rausgeschoben werden. Vor allem müsste die Universität in der Lehre und Forschung stärker auf Nachhaltigkeit setzen. Die sozial-ökologische Transformation müsste ein fächerübergreifendes Kernfach werden. An der Uni Kassel gibt es z.B. für jedes der 17 Nachhaltigkeitsziele eine Professur, dazu ein Institut, das vernetzt. Uns ist es im Unterschied dazu leider nicht gelungen, das „Postwachstumkolleg“ zu verstetigen. Ein einmaliges globales Wissenschaftsnetzwerk und das in ihm gespeicherte Transformationswissen drohen verloren zu gehen. Hinzu kommt: Auch an der FSU darf die soziale Nachhaltigkeit nicht übersehen werden. Wenn mehr nachhaltige Produkte produziert und ihr höherer Preis dann auch von allen bezahlt werden soll, müssen die kleinen Geldbörsen besser gefüllt werden. Das gesamte Gehaltsgefüge an den Unis, auch an der FSU, entspricht insbesondere bei den nicht-wissenschaftlichen Angestellten nicht dem, was für eine sozial-ökologische Transformation notwendig ist.

Wenn wir wirklich akzeptieren, dass die Systemfrage gestellt werden muss und dahingehend nochmal die Rolle der Universität betrachten, dann können wir doch nicht damit zufrieden sein, nachhaltiger zu bauen und gerechtere Tarife umzusetzen. Die Uni müsste doch Tag und Nacht daran arbeiten, wie dieser Wandel umgesetzt werden kann und ob er wirklich notwendig ist.
Ich würde das unterschreiben, aber bei 400 Professoren sind viele auch anderer Meinung. Mit einigen würde ich mich heftig streiten. Aber Sie können nur dafür sorgen, dass die Kernthemen der sozial-ökologische Transformation stärker fokussiert werden. Diese Auseinandersetzung findet zu wenig statt. Mehr können Sie an einer Universität aber kaum machen. Sie müssen die Freiheit der Andersdenkenden akzeptieren. Alles andere wäre der Tod der Wissenschaft. Ich habe allerdings den Eindruck, dass viele nicht mehr dahin gehen, wo es wehtut. Positionen, die zu sehr von der eigenen entfernt sind, werden einfach ignoriert. Das führt dann dazu, dass sich Gesellschaftskritik in Forschung und Lehre oft nur um sich selbst dreht. Die Universität muss Nachhaltigkeitsthemen in den Vordergrund rücken und stärker auf Kontroversen setzen.

Sie sind ja scheinbar ein Fan von kleinen Schritten.
Nein, ich bin ein Fan von Systemwechsel, von nachhaltigem, demokratischem Sozialismus. Um diese Option offenzuhalten, will ich, dass jede Verbesserung, die jetzt unmittelbar erreicht werden kann, tatsächlich erreicht wird. Die kleinen Schritte dürfen aber die Frage des Systemwechsels nicht verdrängen. Wir gehen jetzt diese kleinen Schritte, aber wir wissen aus der Chaostheorie, dass mitunter der Flügelschlag eines Schmetterlings genügt, um scheinbar stabile Systeme zum Einsturz zu bringen.


Schreibe einen Kommentar

*