Nie wieder Präsenz

Corona ist ein Krisenverstärker. Es verwandelt den Platzmangel an der medizinischen Fakultät in Onlinelehre. Ob eine Rückkehr zur Normalität möglich ist, bleibt unklar.

von Johannes Vogt

Wie wird man nochmal Ärztin im Internet? Foto: Johannes Vogt

Die Pandemie ist vorbei. So fühlt es sich zumindest an und damit haben auch all die lästigen digitalen Leiden der letzten Semester ein Ende. Keine ruckelnden Vorlesungen mehr, keine einsamen Tage in den eigenen vier Wänden. Endlich wieder Kommiliton:innen treffen und in Hörsälen sitzen. Für die Meisten ist die Normalität zurück, allerdings nicht für unsere zukünftigen Ärzt:innen. Die sitzen immer noch zu Hause.

Ida*, Medi im sechsten Semester
„Noch immer sitzen wir hauptsächlich vor unseren Computern. Unsere Alltagsstruktur zerfällt, die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnraum verschwimmt und die Kontakte zu anderen Leuten fehlen. Immerhin dürfen wir theoretisch lernen, wie wichtig psychische Gesundheit für die Prävention zahlreicher Krankheiten ist.
Unsere Ansprechpartner zu diesem Thema informieren erst kurz vor knapp, weisen die Verantwortung von sich und machen uns bei Nachfrage ein schlechtes Gewissen. Gerade wir hätten ja eine ,,besondere Verantwortung“.

Ich habe für alle Corona-Maßnahmen weitestgehend Verständnis. Aber ich möchte keine „Online-Only-Medizinerin“ werden! Wir haben ein Recht auf Präsenzlehre und vor allem auf mentale Gesundheit.“

Die medizinische Fakultät ist seit Beginn der Pandemie ein Sonderfall in Sachen Coronamaßnahmen. Der Grund: Die Lehrräume befinden sich nicht nur in der Universität. Nach den ersten zwei Semestern findet ein Großteil der Veranstaltungen im Universitätsklinikum (UKJ) statt. Dort gelten andere Hygienemaßnahmen. Bis zu Beginn dieses Sommersemesters reduzierte der Vorstand des Klinikums die Raumkapazität um zwei Drittel. Das bedeutet: Es gibt nicht genug Räume, Vorlesungen sind fast ausschließlich online und Seminare sind nur dann präsent, wenn es die Raumkapazitäten zulassen – also fast gar nicht. Die Veranstaltungen bleiben in den meisten Fällen online, nur Praktika finden in Präsenz statt.

Hörsaal oder WG-Zimmer

In der Studierendenschaft ist die anhaltende Onlinelehre umstritten. In einer Umfrage des Fachschaftsrats Medizin sprachen sich nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten für mehr Präsenzlehre aus. Die einen verlieren den Boden unter den Füßen, haben keine sozialen Kontakte mehr und leiden unter dem Verlust ihrer Alltagsroutinen. Die anderen genießen die neu gewonnene Freiheit. Vorlesungen kann man auch außerhalb von Jena anhören und in doppelter Geschwindigkeit gehen die 90 Minuten schneller rum.

Saskia, Medi im sechsten Semester
„Ich empfand die Onlinelehre in den letzten Semestern zu keinem Zeitpunkt als Zumutung. Es war tatsächlich eher eine Erleichterung, dass die Universität den Schutz der Gesundheit der Dozierenden und Studierenden als oberste Priorität angesehen hat. Dadurch konnte ein wichtiger Beitrag zur Eindämmung der Pandemie geleistet werden.
Außerdem ist Medizinstudierenden die Anwesenheit bei vielen Veranstaltungen vorgeschrieben. Eine Quarantäne über zwei Wochen würde bei Präsenzveranstaltungen zu Fehlstunden führen, die im schlimmsten Fall die Wiederholung der Seminars nach sich ziehen würden.
Für die Zukunft wünsche ich mir eine hybride Studienform: Präsenzvorlesungen, die gleichzeitig aufgenommen werden, aber auch Präsenz- und Onlineseminare. Ich denke, dass Onlineseminare zeitgemäßer sind und Studierenden auch im Krankheitsfall die Möglichkeit offeriert, an Seminaren teilnehmen zu können.“

Trotzdem: mehr als die Hälfte der Studierenden will mehr Präsenzlehre. Außerdem ist die Umfrage aus dem Wintersemester 2021. Die Coronasituation hat sich seitdem weitgehend entspannt. Der FSR Medizin setzt sich deshalb seit April für mehr Präsenzlehre ein.

Eine Lehre wie vor Corna scheint unmöglich.

Der verwirrende Verwaltungsapparat mache es schwierig, an der richtigen Stelle anzusetzen, erzählt Marius. Er engagiert sich im FSR für die Rückkehr in den Hörsaal. Erst nach einiger Recherche, mehreren Gesprächen und aufwendigem E-Mail-Verkehr wird klar, wo das Problem liegt: Das Hygienekonzept des UKJ beschränkt die Raumkapazitäten so stark, dass Präsenzlehre unmöglich wird.

Der FSR wird zu einem Taskforce-Treffen des UKJ eingeladen. Ganze zehn Minuten dürfen sie die Machtelite des Klinikums davon überzeugen, Präsenzlehre wieder zu ermöglichen. Marius gibt sich danach erst pessimistisch. Aber nach einigen Wochen steht es dann doch: Das neues Hygienekonzept. „Die Kapazitätsbeschränkungen in den Räumen wurden aufgehoben“, heißt es dazu vom Studiendekan Ulf Teichgräber. Jetzt wird alles gut – könnte man meinen.

Ärztemangel ohne Grenzen

Es gibt ein weiteres Problem, das nicht durch das Ende der Pandemie gelöst wird. Im Oktober 2020 sagte der Thüringer Landtag dem Ärztemangel den Kampf an. Durch mehr Studienplätze soll das Problem gelöst werden. Deshalb beschloss er, dass die FSU ab dem Wintersemester 2021 statt 260, wie im vorherigen Semester, 286 Medizinstudierende aufnehmen muss – ein Anstieg von zehn Prozent. Bei solchen Entscheidungen hat die Universität kaum Mitspracherecht. Als Entschädigung bekommt sie vom Land Thüringen zusätzlich knapp vier Millionen Euro.

Um die durch hohe Studierendenzahl entstandene Last zu kompensieren, setzt das Studiendekanat zunehmend auf das Konzept Onlinelehre. Die Räume der medizinischen Fakultät würden nicht ausreichen, um Präsenzlehre für alle zu ermöglichen, erzählt Teichgräber. Das Problem des Platzmangels habe es auch schon vor Corona geben. Durch die Pandemie sei es lediglich verstärkt worden. Eine Lehre wie vor Corona scheint deshalb unmöglich.

Als Studiendekan ist Teichgräber für die Lehre an der medizinischen Fakultät verantwortlich. In dem stärkeren Fokus auf Onlinelehre sieht er vor allem einen Schritt in die Zukunft, der sich nicht aufhalten lässt und begrüßt werden sollte. In fünfzig Jahren werde man sich wundern, dass es Vorlesungen gab, der mehrere hundert Menschen neunzig Minuten lang zuhörten. Er sieht die Zukunft in digitalen Microlearning-Einheiten, kurzen Impulsen, die sich jede digital anschauen kann, wann und wo sie will. Präsenzlehre könne sich auf Praxiseinsätze beschränken.

Lehren lernt man langsam

Hybride Veranstaltungen lösen viele Probleme. Sie ermöglichen ein normales Studierendenleben; zumindest für alle, die das wollen. Die anderen können sich die Vorlesung auch in der WG-Küche anschauen. Gute Hybridlehre hängt aber von der Initiative der Dozierenden ab. Es bleibt leichter, einmal aufgenommene Videos immer wieder hochzuladen, statt sich jede Woche erneut in den Hörsaal zu stellen. Außerdem ist unklar, ob das Know-How überhaupt bei allen Lehrenden vorhanden ist. Mit Kreide und Tafel lässt es sich leichter umgehen als mit Streamingdienst und Aufnahmegerät.

Das Studiendekanat will dieses Problem mit Weiterbildungsangeboten für Dozierende lösen. Aber solche Maßnahmen brauchen Zeit. Was sie nicht schnell genug lösen, sind die alltäglichen Probleme der Student:innen. Sie können nicht auf die schillernde Zukunft der digitalen Transformation warten, weil sie bis dahin vor ihren Patient:innen stehen und ihr in digitalen Vorlesungen mühsam erarbeitetes Wissen plötzlich anwenden müssen.

Hybridlehre ist außerdem jetzt schon möglich. Die Hygienemaßnahmen sind gefallen. Wer will, kann Vorlesungen und Seminare wieder hybrid anbieten. Die meisten Veranstaltungen bleiben trotzdem online. Ob sich das im Wintersemester ändert, ist unklar. Statt den Platzmangel zu lösen, wird das Problem an die Student:innen und Dozent:innen weitergegeben. Das löst Wenig und schafft vor allem Unsicherheit und Stress.

Bürokratisch outgesourct

Wenn uns die Pandemie eines gezeigt hat, dann, dass demokratische Prozesse in Krisenzeiten schnell von Expert:innen und Verwaltungsapparate abgelöst werden. Nicht, weil wir uns als Gesellschaft für oder gegen etwas entscheiden, verändert sie sich, sondern aus Sachzwängen: Der Studiendekan reagiert auf die Vorgaben des Landes. Die reagieren auf den Ärztemangel. Die Hygiene am UKJ reagiert auf Infektionszahlen. Ob die Entscheidungen dabei gut sind, hinterfragt niemand. Nicht einmal die Lockerungen lassen sich auf die Inititative des FSR zurückführen. Die wären wahrscheinlich sowieso gekommen, weil sich die Infektionsdynamik seit Ostern beruhigt hat. Wie es in Zukunft weitergeht, entscheidet dann auch nicht jemand, sondern vor allem etwas: die Pandemie.

Nicht Menschen, sondern Sachzwänge regieren. Um nicht nur der Sache gerecht zu werden, sondern auch den Menschen, die darunter leiden, wäre es das Mindeste, eine Diskussion darüber zu ermöglichen, welche Entscheidungen gut oder schlecht für die Studenti:innen und Dozent:innen sind, statt in Hinterzimmern auf die große digitale Transformation zu hoffen.

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