Wem gehört die Stadt?

Über drei Jahre hinweg begleitete Pablo Mattarocci soziokulturelle Initiativen und Vereine in Jena. Den Kampf gegen ihre Verdrängung erzählt er in seinem Dokumentarfilm „Nichtstadt – Portrait eines Fortschritts“.

von Johannes Vogt

Keksrolle am Bröseln. Foto: Johannes Vogt

Aller guten Dinge sind zwei. Das gilt vor allem für Premieren. Nachdem der Dokumentarfilm über Jenas soziokulturelle Szene schon 2021 das erste Mal öffentlich gezeigt wurde, feiert Nichtstadt dieses Jahr ein Comeback: Premiere 2.0.

Der Marktplatz ist voll, die Menschen tragen North-Face-Jacken und bunte Mützen, die nicht ganz bis über ihre Ohren reichen. In der Luft liegt der Geruch von Cannabis. Alle sind aufgeregt, schließlich geht es um sie.

Verdrängung aus der Nichtstadt

„Nichtstadt – Portrait eines Fortschritts“ ist ein Dokumentarfilm. Der Regisseur und I-nitiator des Projekts, Pablo Mattarocci, hat über drei Jahre hinweg Initiativen und Projekte in Jena begleitet.

Den Kampf gegen ihre Verdrängung soll der Film nun zeigen: Die Insel, ein ehemaliges Wohnprojekt gegenüber vom Unihauptgebäude, musste einer Baustelle weichen. Hier entsteht heute ein neuer Campus für die Friedrich-Schiller-Universität.

Das Geburtshaus am Carl-Zeiss-Platz ist an den Stadtrand gezogen, damit ihre Räume für das Deutsche Optische Museum genutzt werden können. Das Stadion des FC Carl Zeiss Jena wurde gegen den Willen seiner Fans umgebaut. Ihre Südkurve wurde abgerissen. Das Café Wagner muss wegen Renovierungsarbeiten schließen. Der Wagenplatz, ein Wohnprojekt, bei dem Menschen in mobilen Unterkünften gelebt haben, wurde verboten, wegen Verstoß gegen das Baurecht. Allgemein waren die 10er kein gutes Jahrzehnt für die soziokulturelle Szene Jenas.

Alles weg

Einige der Initiativen, die der Film zeigt, kennt man heute gar nicht mehr. Sie sind schon seit mehreren Jahren aus dem Stadtbild verschwunden. Das will Mattarocci mit seinem Film verhindern, erzählt er dem Akrützel. Er wolle zeigen, dass Projekte aus der Zivilbevölkerung immer wieder vor denselben Problemen stehen, wenn sie keine Finanzkraft hinter sich versammeln können: bürokratische Hürden, Platzmangel, rechtliche Bedenken und zum Schluss: Verdrängung.

„Darauf warten, dass die Politik endlich mal was macht, halte ich nicht für die beste Lösung. Tatsächlich werden solche Sachen immer nur durch den Druck der Straße durchgesetzt“, sagt Mattarocci.

Die Dokumentation ist eigentlich nicht seine erste. Er hat schon einmal eine gemacht. Auf einer Reise durch Südamerika begleitete er einen Wanderzirkus, erzählt er. Die Aufnahmen wurden ihm aber geklaut, als er eine Nacht am Bahnhof verbringen musste.

Mattarocci ist ein junger Filmemacher. In seiner Studienzeit in Jena ist er mit der alternativen Szene Jenas in Kontakt gekommen. Die Freiheit und Pluralität der Menschen dort begeisterte ihn. Ihr Leben und Engagement will er in seinem Film am Leben halten.

Von Weihnachtsmarkt bis Inselrave

Zwischen den Interviewsequenzen zeigt der Regisseur immer wieder Bilder von Je-nas Stadtleben und dem Kontrast, der dort herrscht. Zwischen Weihnachtsmarkt und Inselrave, Soulkonzert und Straßenreinigung stellt sich eine Frage: Was macht eine Stadt lebenswert? Ein Thema, mit dem man sich im Alltag selten auseinandersetzt.

Wer denkt schon darüber nach, wie man eigene Vorstellungen im Stadtbild verwirklichen kann? Städte orientieren sich offenbar eher an den Interessen großer Investoren, an Wachstum und Ansehen und nicht am Interesse der kleinen Frau.

Für die Protagonistinnen des Films ist das anders. Nichtstadt lässt sie ihre Geschichte selbst erzählen. Bei einigen ist man geneigt, ihre Problem herunterzuspielen. Ein neues Stadion für den FCC, Renovierung eines studentischen Cafés, was soll daran so schlimm sein?

Das Problem liegt aber woanders: Der Film zeigt keine Menschen, die meckern, sondern Menschen, die sich engagieren, die ihre Rechte nutzen, um im Stadtrat auf ihre Interessen aufmerksam zu machen, die Anträge stellen, Gespräche führen und Kompromissvorschläge machen.

Erfolglos: Die Vorschläge der Südkurve, das Stadion ohne Abriss ihrer Fankurve umzubauen, wurden nicht angenommen, Gesprächsangebote der Inselbewohnerinnen wurden ignoriert und der Wagenplatz musste trotz positiver Gespräche mit Stadträtinnen ihr Zuhause räumen. Der Grund: Der Widerwillen des Oberbürgermeisters, eine Duldung zu verlängern. Am Ende bleibt die Resignation. Die Frage ist nicht nur, was eine Stadt lebenswert macht, sondern auch, wer dabei mitentscheidet.

Nie wieder Nitzsche

Jenas Oberbürgermeister, Thomas Nitzsche, spielt eine Schlüsselrolle in der Stadtentwicklung Jenas. Für ein Gespräch in der Dokumentation stand er nicht bereit. Anfragen der Produzentinnen ignorierte er, erzählt Mattarocci.

Im Film kommt er trotzdem zu Wort. Die Szenen stammen von öffentlichen Veranstaltungen. Nitzsche ist FDPler, er steht für das Silicon Valley Jena. Im Film wird deutlich: Von Mitbestimmung für Mieterinnen hält er nichts. Der Wohnraum gehört ja nicht ihnen. Menschen, die in Wagen leben, verstoßen gegen das Baugesetz. Und wenn wir Wachstum wollen, müssen wir eben damit leben, dass jemand dafür die Kosten zahlen muss. „Das wird passieren müssen. Immer fair im Umgang, aber das wird passieren“, fasst Nitzsche seine Ziele zusammen. Wo gehobelt wird, da fallen Späne.

Die Sonne ist untergegangen. Zum Schutz vor der Kälte ziehen die Zuschauerinnen ihre North-Face-Jacken bis oben hin zu und ihre Mützen über die Ohren. Die Soziokultur Jenas verabschiedet sich, hoffentlich nur vom Marktplatz und nicht gleich von der ganzen Stadt. Der Film ist vorbei, die Premiere geglückt, die Fragen bleiben: Was macht eine Stadt lebenswert, wer entscheidet das und vor allem: Wieso hat Jena einen Oberbürgermeister aus der FDP?

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