Erst, wenn das Regime fällt

Polina kommt aus Russland. Sie wohnt seit zwei Jahren in Jena und studiert Wirtschaftsmathematik im Master. Sie erzählt uns, wie sie mit dem Kriegsgeschehen umgeht.

Gesprächsprotokoll: Johanna Heym und Stephan Lock

“Sie streiten ab, was in Butscha passiert.” Foto: Lukas Hillmann

Vom Krieg erfuhr ich aus den Nachrichten. Es war 10 Uhr morgens. Ich befand mich in Jena, zuhause im Studentenwohnheim. Ich wachte auf und nahm mein Handy. Ich lese jeden Morgen Nachrichten, vor allem die Meduza – eine unabhängige russische Internetzeitung. Dort habe ich gesehen, dass es hunderte von Nachrichten gab, und sofort verstanden, dass etwas passiert war. Ich begann alles zu lesen und war erschrocken.

Um meine Freunde aus der Ukraine zu kontaktieren, postete ich etwas auf Instagram. Eine sehr nahe Freundin aus der Ukraine schrieb mir: „Wir sind zusammen gegen euch Russen. Wir wollen russische Soldaten töten. Wir wollen Tode.“ Putin hat einen Keil zwischen mich und meine Freunde getrieben.

Unverständnis

An diesem Tag bin ich zur Demonstration in Jena gegangen und habe sehr viel geweint. Jetzt, wo schon ein Monat vergangen ist, kann ich alles ganz gut verstehen und die ukrainischen Menschen nicht dafür verurteilen, dass sie so aggressiv sind. Ich sehe, was mit Mariupol und Charkiw passiert. Das sind eigentlich keine Städte mehr.

Eine andere Sache, die mir sehr weh tut, ist, dass der Großteil meiner Familie Putins Krieg unterstützt. Ich habe Angst, mit ihnen über die Situation zu sprechen, weil mir die Beziehung zu ihnen wichtig ist.
Aber sie streiten alles ab, was in Butscha passiert ist, und meinen, das wäre fake. Meine Familie unterstützte Putin schon vor dem Krieg und sie lieben ihn, was ich nicht verstehen kann. Und eine mir sehr nahestehende Verwandte sagt, sie könne nicht glauben, dass russische Soldaten etwas derartiges tun würden.

Entfremdung

Sie schickt mir immer verschiedene Videos, Posts und Links. Ich habe versucht mit ihr zu reden und ihr zu erklären, warum das nicht richtig ist. Aber sie versteht es einfach nicht und hört nicht auf, mir diese Videos zu senden. Das ist ziemlich stressig für mich, eigentlich würde ich sie gerne blockieren.

Sie ist nun ein anderer Mensch für mich. Das ist wirklich schwer, und ich bin den Freunden aus der Ukraine dankbar, die noch zu mir stehen. Sie unterstützen mich bezüglich meiner Situation in der Familie und das beweist mir noch einmal, dass Ukrainer wirklich gute Menschen und keine Nazis sind.

In Russland gibt es so eine historisch gewachsene Idee, dass der Präsident oder „Zar“ alles richtig macht. Viele Menschen wollen selbst nicht denken und Verantwortung übernehmen – sie glauben dem Oberhaupt, das sich nicht zuletzt mit Gewalt im Amt hält. In der russischen Nationalgarde sind wirklich schreckliche Menschen, sie behandeln russische Menschen schlecht, zum Beispiel schlugen und unterdrückten sie sie im Laufe von Demonstrationen gegen die Inhaftierung von Nawalny oder gegen den Krieg.

Putin hat einen Keil zwischen mich und meine Freunde getrieben.

Alle meine Freunde aus Russland studieren nicht mehr. Einige sind bereits aus Russ-land weggezogen. Andere bleiben immer noch da, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis Russland wieder einen guten Ruf hat. Solange Putin an der Macht ist, wird das wohl nicht passieren.

Aber es geht nicht nur um das Regime, sondern auch um die allgemeine Mentalität und die nationale Denkweise der Menschen. Diese muss sich ändern, aber ich denke, dass das in Russland noch lange dauern wird.

Identität

Hier in Deutschland gehen die Menschen sachlich mit meiner russischen Identität um. Im Gegensatz zur Vermutung von Menschen aus Russland werde ich nicht diskriminiert. Wenn ich jedoch neue Menschen treffe, habe ich Angst, zu sagen, wo ich herkomme. Ich versuche zu zeigen, dass ich nicht stolz darauf bin, aus Russland zu sein. Manchmal würde ich am liebsten meinen Pass verbrennen und meine Verbindungen abbrechen. Ich wünsche mir, dass der Krieg endet. Menschen sollen nicht sterben.

Früher war ich nicht sicher, wie ich meine Zukunft gestalte, aber inzwischen kann ich sagen, dass ich in Europa bleiben will. Ich werde fertig studieren und dann einen Job suchen. Nach Russland möchte ich nicht zurückkehren. Natürlich habe ich meine Familie da und Freunde, die ich irgendwann wiedersehen möchte. Aber nicht, solange dieses Regime besteht. Russland ist ein Land ohne Unabhängigkeit, ohne Freiheit und mit einer schlechten Wirtschaft. Ich werde erst zurückkehren, wenn das Regime gefallen ist und Russland ein demokratisches Land ist.

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