“Wer nicht kämpft, hat schon verloren.”

Die Stura-Sitzungen der FSU werden immer absurder. Man könnte meinen, die angehenden Politikerinnen orientierten ihr Theater ganz an Bertolt Brecht. Ein literaturwissenschaftlicher Interpretationsversuch.

von Lukas Hillmann

Bald orientiert sich auch das Theaterhaus an den Stura-Sitzungen. Foto: Lukas Hillmann.

Am gestrigen Dienstag war es wieder so weit. Die Studierendenschaft entsendete ihre größten Politikexperten zur Mehrheitsfindung in den Hörsaal. Unter anderem debattierten sie in der Stura-Sitzung über eine Erhöhung des Kulturtickets. Völlig unnötig, wenn diese für alle kostenlose und vor allem gekonnte Abwandlung des Epischen Theaters von Studierenden kaum wahrgenommen wird.

Der Vorstand, der im Sinne Brechts als Erzähler durch die Sitzung leitet und durch möglichst nüchterne Darstellungsweise der Szenen eine Distanz zum Geschehen herzustellen sucht, besteht aus nunmehr zwei Personen, Patrick Riegner ist zurückgetreten. Seither schmeißen Laura Steinbrück und Paul Staab den Laden allein und suchen händeringend nach einem konservativen Ausgleich in den viel zu linken Vorstandsreihen.

Exposition

Doch zunächst erscheinen die Protagonistinnen nach und nach auf der Bühne, mit deutlicher konservativer Mehrheit durch die Fraktion Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), ergänzt um eine handvoll Unabhängige und einen verschwindend kleinen Teil linker Kräfte. Der RCDS nutzt die zuvor im Senat verkündete Regelung, dass kein Abstand mehr eingehalten werden muss, direkt aus und bildet einen undurchdringbaren Vorhang der Einschüchterung nach dem Motto: „Wir kriegen heute alle Anträge durch.“ 

Einzelne Rufe versuchen diesen Vorhang zu Fall zu bringen, der RCDS habe ja stets gemeckert und sogar mit Beorderung der Campuswache gedroht, wenn andere Fraktionen auch nur kurz das Abstandsgebot nicht eingehalten hätten – ohne Erfolg. Die Sitzung ist eine Sitzung des RCDS – pünktlich, antragsreich und stimmgewaltig. Von schwachen Klagen aus den unteren Reihen lässt er sich nicht auf Abstand setzen.

Erregendes Moment

18:18 Uhr, die Farce beginnt. Paul Staab leitet die Sitzung und führt durch die Tagesordnungspunkte, die aus alten Sitzungen aufgrund fehlender Beschlussfähigkeit übernommen wurden. Alteingesessene Zuschauerinnen kennen diese Methode bereits, nehmen sie stillschweigend hin. Ein klassischer Prolog, das Publikum soll wissen, dass jetzt gespielt wird, es soll sich die nächsten drei bis sechs Stunden voll und ganz auf das Stück einstellen können.

Gleich zu Beginn stehen jedoch zwei ungewöhnliche Anträge auf der Tagesordnung, die die Zuschauerin kurz reflektieren lässt und direkt ins Geschehen holt. Die Stura-Mitglieder wollen die Innenreferenten Jil Diercks und Jan Böhmer abwählen. Sie seien parteiisch und würden Anfragen von Personen, mit denen sie ein persönliches Problem hätten, einfach ignorieren. Das Skript zum Schauspiel, das vom Erzähler „Sitzungsmaterial“ genannt wird und den Zuschauerinnen ausgeteilt wird, spielt dabei deutlich mit für das Epische Theater typischen Verfremdungseffekten. Laut Skript sprach sich das Innenreferat zuvor gegen die Finanzierung von Keksen für eine Finanzerschulung aus, bezahlte aber selbst Kekse für die AG Haushalt. Einer der Hauptgründe für die anstehende Abwahl. 

Die Protagonisten lesen sich während der Szene in das Skript ein, entwickeln es weiter, treiben es auf die Spitze und heben den Plot in eine absurde Ebene, die die Zuschauerin das offensichtliche Schauspiel deutlich werden lässt. Als Krönung wird nach der Abwahl Jils als persönliche Erklärung ein Rezept für Plätzchen verlesen. Der V-Effekt ist perfekt, das Publikum muss sich zwangsläufig kritisch mit dem Gesehenen auseinandersetzen.

Höhepunkt

Zur anschließenden Vorstandswahl stellen sich Florian Rappen und Felix Graf, zwei unabhängige Kämpfer voller Satzungs- und Geschäftsordnungskenntnis. Die Menge wird unruhig, zynisch übertriebene Lacher erfüllen den Hörsaal. Die Protagonisten treten aus ihrer Rolle heraus, zeigen ein anderes Gesicht und heben das Stück auf eine neue Ebene. Die Warnung, ein Florian Rappen im Vorstand könne dem Stura das letzte bisschen Anerkennung in der Studierendenschaft nehmen, belächelt der RCDS. Zeit, um ein bisschen Unruhe zu stiften. Dem Betrachter servieren die Stura-Mitglieder die Absurdität der Szene auf dem Silbertablett. Er bekommt abermals die Gelegenheit, die Sinnhaftigkeit des Theaters zu hinterfragen. Zuletzt wird Florian nicht gewählt, der Vorstand bleibt zu zweit, die Spannung des Aktes löst sich abrupt.

Retardierendes Moment

Um Ruhe in die Szenerie zu bringen wird anschließend die Illusion einer echten Diskussion erzeugt. Der RCDS möchte die Zusammenarbeit mit Fridays For Future beenden, weil diese zur marktwirtschaftsfeindlichen Sachbeschädigung aufrufen würden. Da die Beendigung einer eventuell gar nicht vorhandenen Kooperation aber ein schlechtes Licht auf den Stura werfen könnte, entscheidet man sich für einen Kompromiss. Die Fridays sollen eingeladen werden, mit dem Stura ins Gespräch kommen und erklären, was das alles soll.

Zum Schluss wird ein besonderer Rahmen geschaffen. Die Schauspieler treten erneut aus ihren Rollen und reflektieren ihr eigenes Handeln. Die ehrenamtliche Arbeit habe stark abgenommen. Der Stura verliere die Nähe zu seinen Studierenden, er droht, in der eigenen Bürokratie zu versinken. Als wäre es in 30 Jahren Stura je anders gewesen. Fiebrig suchen die Protagonisten Auswege. Einer könnte sein, sich einfach mal für ehrenamtliche Arbeit zu bedanken.

Katastrophe

Doch da Kritik an fremder Arbeit viel einfacher ist, wird sich daran nicht viel ändern. Das Stück wird streng nach Skript beendet, das Publikum verbleibt im Hörsaal, verwirrt über die letzten Stunden, die es über sich hat ergehen lassen. Im Nachhinein und mit genügend Abstand betrachtet bot der Stura ein Paradestück des Epischen Theaters voller Verfremdungseffekte und kritischer Metaebenen. Schade, dass niemand geklatscht hat. Für viele ist die Kunst wohl einfach zu hoch.

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