“Kein guter Morgen”

Sofia wollte in den Semesterferien ihre Familie in der Ukraine besuchen. Doch dann brach der Krieg aus. Nun ist sie wieder in Jena, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, die sie hier in Sicherheit gebracht hat.

von Lukas Hillmann und Johannes Vogt

Die letzte Klausur ist geschrieben, das Semester ist abgehakt. Eine gute Gelegenheit, um in die Heimat zu fahren und Verwandte und Freunde zu besuchen, bevor es im April mit dem Studium weitergeht. Das dachte sich Sofia Kovalchuk zumindest. Sie hatte Pläne für die vorlesungsfreie Zeit, wollte ihre Großeltern besuchen, die 200 Kilometer von ihrer Heimat entfernt wohnen, wollte eine Freundin in Griechenland besuchen, die dort gerade ein Erasmus-Semester macht. Ihre Familie und Freunde hat sie für das Jura Studium in Jena verlassen.

Wie viele Studierende packt die 20-Jährige ihre Sachen und fährt in die Heimat, rund 1.000 Kilometer in den Osten. Vier Tage später wird sie morgens um 7 Uhr von ihrer Cousine angerufen und geweckt: „Kein guter Morgen. Der Krieg hat begonnen.“

Sofia begrüßt die Sichtbarkeit der ukrainischen Flaggen vor der Uni. Foto: Johannes Vogt

Sofia ist Ukrainerin. Seit dem Wintersemester 2019 studiert sie in Jena, hat hier eine zweite Heimat gefunden. Als sie am 20. Februar 2022 in ihrer Heimatstadt Winnyzja ankommt, rechnet sie noch nicht mit dem Kriegsbeginn. Doch am 24. Februar marschieren russische Truppen in die Ukraine ein. Ihr Leben und das ihrer Familie ändert sich von einem Tag auf den anderen.

Kriegsnotizen

Ihre Geschichte erzählt sie dem Akrützel. Nach Kriegsbeginn haben Sofia und ihre Familie beschlossen, nach Deutschland zu kommen. Seitdem fühlt sie sich verpflichtet, über den Krieg zu informieren und damit ihren Beitrag zur Hilfe zu leisten.

Zum Gespräch kommt sie mit einer violetten Bauchtasche, an die sie die Farben der ukrainischen Flagge angebracht hat. Dazu trägt sie ein kleines Buch in den Händen, gefüllt mit Notizen über die letzten Tage. Zwölf Seiten, die stichpunktartig ihre Sicht auf den Krieg zusammenfassen, überschrieben mit „Akrützel“. Zwölf Seiten, die sie geschrieben hat, um ihre Geschichte zu teilen. Neben unserer Sicht auf Sofia soll sie die Möglichkeit bekommen, ihre eigene Sichtweise möglichst unverändert wiederzugeben. Daher werden einige Zitate ihre Notizen veröffentlicht und kursiv dargestellt.

Nach dem Anruf ihrer Cousine geht Sofia ins Schlafzimmer der Eltern, die schon wach sind. Sie schalten den Fernseher ein und lassen ihn von nun an laufen. Nur nachts zum Schlafen wird er abgeschaltet. Er zeigt Bilder vom Krieg, hält Informationen für die Bevölkerung bereit, lässt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu seinem Volk sprechen und ihn so als Held in die Geschichte eingehen.

„Ukrainisch wurde in den letzten 400 Jahren 134 Mal auf offizieller Ebene verboten. Das bekannteste Verbot war der Emser Erlass vom russischen Zar Alexander II. […] Russland wollte Ukrainisch zur Sprache der unprivilegierten Klassen machen. Grund dafür war der Verdacht der zarischen Behörden, dass die Veröffentlichung von Büchern in ukrainischer Sprache das Wachstum separatistischer und antizaristischer Gefühle stimulierte. Wahnsinn, oder?“

Zwischen Nachrichten und Flugalarm

Die ersten Tage des Krieges verbringt Sofia im Haus ihrer Familie, gemeinsam mit den Eltern und der kleinen Schwester. „Ich habe ständig auf dem Handy Nachrichten geschaut und sie auf Instagram für meine nicht-ukrainischen Freunde geteilt.“ Ihr Instagram-Account, ein bis dato ganz normaler Account einer Studentin, zeigt Bilder von Sofia beim Tanzen, beim Reisen, im Schnee und in Jena. Doch ihre Story ist seither voll mit Informationen, Videos und Bildern über den Krieg.

Die Sprache ist die Identifikation einer Nation. Gleich nach dem Verschwinden der letzten Person, die ukrainisch spricht, endet der Prozess der Assimilation.”

Vier Tage nach Kriegsbeginn steht der Entschluss fest: Sofia und ihre Familie wollen fliehen. Das Ziel: Jena. Ihr Vater muss in der Ukraine bleiben. Das Mobilisierungsgesetz verbietet Männern zwischen 18 und 60 Jahren, das Land zu verlassen. Die Familie fährt gemeinsam mit einer befreundeten Familie an die Grenze nach Moldawien.

Der härteste Moment in meinem bisherigen Leben war, als mein Vater an der Grenze aus dem Auto steigen musste. Erst dann habe ich realisiert, was wir hier eigentlich machen. Jetzt liegt eine sehr große Verantwortung auf mir. Meine Mutter hat noch zwei Tage nach der Flucht geweint.“

Über Moldawien, Rumänien, Ungarn, die Slowakei und Tschechien fliehen sie nach Deutschland, nach Jena. Sie müssen einen Umweg von fast 1.000 Kilometern in Kauf nehmen, weil die polnischen Grenze bereits voller geflüchteter Menschen ist.

Dank der Vernetzung ukrainischer Studierender in Jena hat Sofia über einen Freund schnell eine Unterkunft für ihre Mutter und ihre kleine Schwester gefunden. Eine Familie hat die beiden aufgenommen und ihre Unterstützung angeboten.

Das Problem der Macht von Putin ist kein Problem aus dem Jahr 2022. Er ist schon seit 20 Jahren da. Hatten die Russen keine Möglichkeit, ihn zu entmachten? Sie haben ihren Frieden mit ihm gemacht. Schweigen ist ein Ausdruck der Lebenseinstellung.“

Angriff auf die Heimatstadt

Ihr Vater ist weiterhin in der Heimatstadt, muss bisher aber keinen Dienst an der Waffe leisten. Sie hat viel Kontakt zu ihm, er hat Internet und kann über seine und die aktuelle Lage in der Stadt informieren. Auch der Spiegel berichtete aus Winnyzja, einer Stadt, 260 Kilometer von der Hauptstadt Kyjiw entfernt, die für viele Ukrainerinnen selbst zur Fluchtstätte wurde. Schulen wurden umgebaut und dienen nun als Notunterkünfte. In der Stadt mit ca. 370.000 Einwohnerinnen sei es noch verhältnismäßig ruhig, dennoch ertöne der Flugalarm auch hier einmal stündlich und Menschen ohne eigene Schutzräume suchten sie in öffentlichen Gebäuden.

Einen Tag vor dem Gespräch sei auch in Winnyzja die erste Rakete eingeschlagen, berichtet Sofia. Sie habe den Funkturm der Stadt getroffen. „Kein wirklich strategisches Ziel. Wir haben weitere Wege, um uns zu informieren.“

Wie sollen wir ohne Hass über die Menschen reden, die unsere Städte bombardieren und unsere Kinder töten?“

Aufklärung über ukrainisches Leid

Sofia ist eine politisch interessierte Person. Von Selenskyi hat sie bisher nicht viel gehalten. Zur Präsidentschaftswahl hat sie sogar seinen Konkurrenten gewählt, er sei das kleinere Übel gewesen. Doch seit Kriegsbeginn mache er vieles richtig. „Er hat gute Botschaften an das ukrainische Volk, er stärkt dessen Einigkeit.“

Die Entschlossenheit der ukrainischen Bevölkerung sei groß, genauso die Bereitschaft zu helfen. Nach Kriegsbeginn habe das Krankenhaus von Winnyzja aufgefordert, Blut zu spenden. Sofia entschloss sich, dem Aufruf zu folgen, doch als sie zum Spenden kam, war die Blutbank bereits voll. Es werden in der Stadt Schutzräume ausgewiesen, die Menschen helfen sich gegenseitig. Der Krieg hat die Bevölkerung zusammenschweißen lassen. Sie kämpft gegen einen gemeinsamen Feind.

An alle anderen Völker: Statt auf Insta-Storys mit ‚deeply concerned‘ zu antworten, spendet Geld an die ukrainischen Streitkräfte oder leistet humanitäre Hilfe.“

Sofia hat Verwandte in Russland. Schon 2014, bei der Annexion der Krim, hätten sie der ukrainischen Sichtweise nicht geglaubt. Das sei jetzt nicht anders. Zum einen sei Putins Propaganda daran Schuld, erzählt Sofia. Aber sie ist auch davon überzeugt, dass die Menschen zu unkritisch über Putin denken: „Propaganda wirkt nur auf dumme Leute.“ Sie denkt, die Menschen in Russland seien zu gleichgültig. Sie fänden sich einfach mit Putin ab.

[Scholz’] Aussage: ‚Das ist Putins Krieg, nicht der Krieg der Russen‘, stimmt zweifellos definitiv hundertpro überhaupt nicht. Putin allein drückt ab? Startet die Raketen? Bombardiert friedliche Städte? Entbindungsheime, Kindergärten, Schulen, Wohngebäude?“

Unsichere Zukunft

Auf die Frage, ob Putin den Krieg beenden wird, findet sie eine klare Antwort: Nein. Nach ihrer Einschätzung wird er sich auch nicht mit der Ukraine zufrieden geben. „Die ganze Welt muss mehr gegen Russland zusammenarbeiten. Die Nato muss eingreifen, sonst stoppt Putin nicht in der Ukraine, sondern geht weiter.“ Auf einen Aufstand der russischen Bevölkerung könne man nicht hoffen, sie habe kein Interesse, gegen ihn vorzugehen. Sofia sagt, dass sie schon immer einen Zar hatten, der ihnen gesagt hatte, wo es lang geht. Daran habe sich nichts geändert.

Die Mottos ‚Wir sind für den Frieden‘ oder ‚Stoppt den Krieg‘ enthalten keine konkrete Informationen. Wer soll den Krieg denn stoppen? Wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, wird sie nicht mehr die Ukraine sein. Nur wenn Russland aufhört zu kämpfen, dann wird es kein Krieg mehr sein.“

Über ihre Zukunft kann Sofia nur schlecht sprechen. Sie ist einfach zu unsicher. Sie will ihr Studium in Jena beenden, doch was dann? Ihre Mutter, das weiß sie ganz sicher, will wieder zurück in die Heimat, zurück zu ihrem Mann. Doch wann sie wieder nach Hause kann, ist nicht klar. Deshalb füllen sie zur Sicherheit alle notwendigen Dokumente aus, um im Zweifel eine längere Zeit bleiben zu können. Doch alle Entscheidungen über den weiteren Verlauf werden gerade spontan getroffen. Zu ungewiss ist der weitere Kriegsverlauf, der auch ihr Leben maßgeblich beeinflussen wird.

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