“Du bist Jude!”

Deutschland feiert 1700 Jahre jüdisches Leben. Doch Antisemitismus überschattet die Feierlichkeiten. Jüdinnen und Juden müssen sich auch heute noch fragen, wie sicher es für sie in Deutschland ist.

von Lukas Hillmann

Eigentlich hatte der Tag das Potenzial, ein schöner zu werden. Shahru ist seit einer Woche in Erfurt und beschließt, seine neue temporäre Heimat zu erkunden. An diesem Freitag Anfang Oktober ist es noch relativ warm, er braucht keine Jacke und durchfährt die Innenstadt mit dem Fahrrad. Altes Fachwerk, kleine Gassen und mittendrin diese riesige Kirche. Ein Bild, das er von zu Hause nicht kennt.

Was er nicht merkt: Der Anhänger seiner Kette ist über sein T-Shirt gerutscht. Ein Anhänger, der ihm in Deutschland zum Verhängnis werden kann.

Er beschließt, eine Pause zu machen und eine Zigarette zu rauchen. Vor dem Supermarkt am Domplatz fragt er eine Gruppe junger Männer nach Feuer.

Zu auffällig? Foto: Lukas Hillmann

„Wenn du kein Deutsch sprichst, dann verpiss dich“, bekommt er als Antwort. Er versteht sie nicht sofort, wird sie sich aber im Nachhinein zusammenreimen können. Als sie seine Kette entdecken, ruft einer: „Du bist Jude!“ Eine Phrase, die Shahru sofort versteht. Die Gruppe bedrängt ihn, einer droht: „Ich zähle bis zehn“ und geht auf ihn zu, andere beginnen zu zählen: „Eins, zwei, drei.“ Der Student steht unter Schock, kann sich später kaum noch an die Gesichter der Personen erinnern. Erst nach einiger Zeit helfen ihm zwei Schüler aus der Situation.

Antisemitismus im Alltag

All das passiert mitten am Tag in der Innenstadt einer belebten deutschen Landeshauptstadt, direkt vor ihrer größten Touristenattraktion. „Ich wusste, dass es in Deutschland noch Nazis gibt“, wird Shahru später sagen, „aber ich hätte nicht gedacht, dass sie ihre Parolen so leicht verbreiten können. Inmitten vieler Menschen.“

Shahru, dessen Aussagen in diesem Text aus dem Englischen übersetzt wurden, trägt seit seiner Kindheit eine Kette mit einem Davidstern, ein Geschenk der Mutter. Sie hat ihm in seiner Heimat Aserbaidschan nie Probleme bereitet, denn Jüdinnen und Juden, sagt er, werden dort sehr respektvoll behandelt. Dort sei es üblich, mit Kippa und sichtbarem Davidstern auf die Straßen zu gehen.

In Deutschland jedoch ist der Davidstern ausreichend, um angegriffen zu werden. In der selben Woche wirft der jüdische Sänger Gil Ofarim einem Mitarbeiter eines Leipziger Hotels Antisemitismus vor – aufgrund seines Davidsterns.

Ein Grund zum Feiern?

Eigentlich feiert Deutschland im Jahr 2021 ein Jubiläum. Seit 1700 Jahren leben nachweislich Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Bereits in der Spätantike ist das Judentum ein wichtiger integrativer Bestandteil der europäischen Kultur gewesen. Der Festakt zu diesem Jubiläum konzentriert sich nicht nur auf die Geschichte, sondern auch auf die Gegenwart, so stellt er heutiges jüdisches Leben in seiner Unterschiedlichkeit und seiner Alltäglichkeit in Deutschland dar.

“Ich hätte nicht gedacht, dass sie ihre Parolen so leicht verbreiten können.”

Auch Thüringen schließt sich an und feiert seit 2020 900 Jahre jüdisches Leben. Die Festlichkeiten ziehen bis ins Frühjahr dieses Jahres hinein. Das Land plante zahlreiche Veranstaltungen, viele davon pandemiebedingt digital. Besonders stolz ist man auf einen virtuellen Rundgang durch die große Synagoge in Erfurt, die 1938 im Zuge der Novemberpogrome durch die Nazis zerstört wurde.

In diesen Veranstaltungsreihen wird auf vielfältige Weise auf jüdisches Leben in Deutschland aufmerksam gemacht. Karten zeichnen geschichtsträchtige Orte aus und virtuelle Stadttouren zeigen den Weg zu wichtigen Standorten. Beim Klang der Stolpersteine, der jährlich am 9. November stattfindet und kleine Kulturkonzerte an Jenas Stolpersteinen stattfinden lässt, nahmen im letzten Jahr mehr als 300 Künstlerinnen teil. Auch der Studientag der theologischen Fakultät der FSU lief unter dem Motto „Christen – Juden – Gesellschaft. Perspektiven für Gegenwart und Zukunft“.

Feierlichkeiten im Schatten

Doch all die kleinen und großen Feierlichkeiten werden vom noch immer vorhandenen Antisemitismus in Deutschland überschattet. Und dieser Schatten kommt nicht nur von den großen Anschlägen wie Halle und Hanau, die es in die Medien schaffen. Der alltägliche Antisemitismus verdunkelt das Bild und Jüdinnen und Juden müssen sich weiterhin die Frage stellen, wie sicher es für sie in Deutschland noch ist.

Im Jahre 2000 fand in Erfurt ein Brandanschlag auf die Synagoge statt, ausgeführt von drei Rechtsextremisten. Die Erschütterung war groß. Als Reaktion darauf wurde unter anderem der Thüringen-Monitor von der Thüringer Landesregierung in Zusammenarbeit mit der Uni Jena eingeführt, der seither jährlich die politische Einstellung der Thüringerinnen und Thüringer misst. Er fängt dabei auch antisemitische Einstellungen ein und kommt zu bisweilen alarmierenden Ergebnissen. Im Jahre 2019 stimmten alarmierende 16 Prozent der Befragten der Aussage „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns“ zu. Der Wert ist 2021 zwar wieder gesunken, doch sind immer noch ein Fünftel der Befragten der Meinung, Jüdinnen und Juden würden versuchen, Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während der Nazi-Zeit die Opfer gewesen seien. Die Forschung spricht hier vom sekundären Antisemitismus, einer Feindschaft aus Erinnerungsabwehr heraus.

Man kann den Thüringen-Monitor kritisieren, die Abfrage erfolgt über Festnetzanschlüsse und es werden nur Menschen mit einem Haustelefon interviewt. Vielleicht kann man sagen, dass hier eine Altersverzerrung vorliegt und ältere Menschen antisemitischer sind als die aufgeklärte, tolerante Jugend.

Doch der Brandanschlag wurde von Männern im Alter von 18 und 19 Jahren verübt. Shahru wurde von einer Gruppe junger Männer angegriffen, von denen er heute schätzen würde, sie seien höchstens 26 Jahre alt gewesen.

Bloß nicht vergessen

Wir erinnern uns weiterhin an die Shoah. Zahlreiche Stolpersteine zeigen Spuren jüdischen Lebens auch in Jena. Im Hauptgebäude der Uni leuchtet seit einiger Zeit ein Loch, das an Eduard Rosenthal erinnert. Der Westbahnhof erinnert mit einer Gedenktafel an die Deportation zahlreicher Jüdinnen und Juden nach Buchenwald.

Doch erinnern reicht nicht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist nur vollkommen bei sich, wenn Juden sich hier vollkommen zu Hause fühlen.“ Und bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Shahru, der aus Angst vor weiteren Angriffen sein Gesicht nicht in dieser Zeitung sehen möchte, will in Deutschland bleiben. Der Aserbaidschaner, der gerade in Warschau studiert, möchte in Zukunft seinen Master in Economics in Jena anfangen. Seinen Davidstern jedoch wird er in Zukunft unter seinem T-Shirt tragen. Er hat beschlossen, ihn nur zu zeigen, wenn er sich wirklich sicher fühlt. Er möchte nicht weiter angestarrt werden.

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