Von den Konten des Studierendenrats verschwanden fast 40.000 Euro. Öffentlich schweigt man bisher zu dem Vorfall. Ein Rekonstruktionsversuch.
Von Lukas Hillmann, Henriette Lahrmann, Tim Große, Johannes Vogt und Sophia Jahn
Irgendetwas stimmt nicht. Eigentlich war doch wieder alles in Ordnung. Der Stura ist nach zähen Debatten um den Vorstand arbeitsfähig, als an einem Tag im Dezember die neu eingestellte Sekretärin im Vorstandsbüro stutzig wird.
Sie sortiert die Kontoauszüge der Studierendenschaft, eine Routineaufgabe. Diesen Monat wurde verhältnismäßig oft Geld an eine Versicherungsgesellschaft überwiesen. Es gibt Doppelüberweisungen, das muss noch kein Problem sein, vielleicht ein Versehen.
Dokumente, die dem Akrützel von mehreren anonymen Quellen unabhängig voneinander zugespielt wurden, lassen das Gegenteil vermuten. Es handelt sich nicht um ein Versehen, der Verdacht systematischer Veruntreuung liegt nahe. Das Thema soll zunächst nicht an die Öffentlichkeit geraten, sämtliche Debatten werden hinter verschlossenen Türen geführt.
Den Überblick über fast 40 Konten kann man schon mal verlieren, dass Geld aber einfach verschwindet, ist ein Novum. Geld, das von allen Studierenden jedes Semester an den Stura überwiesen wird, damit er verschiedene Projekte verwirklichen kann. Verwaltet werden jährlich knapp 400.000 Euro, jede Studentin zahlt pro Semester elf Euro. Wie den Dokumenten zu entnehmen ist, scheinen davon mehr als 38.000 Euro auf dem Konto einer ehemaligen Angestellten gelandet zu sein. Und keiner will es bis zum Dezember letzten Jahres gemerkt haben.
Die Unstimmigkeit
Die Unstimmigkeiten in den internen Dokumenten beginnen im Frühjahr 2020. Am 20. März wird eine Überweisung vom Hauptkonto der Studierendenschaft mit dem sperrigen Verwendungszweck „Miete Veranstaltung Semesterparty RN.002507/19, M060-2019, A.02.08.01 Lehramt, RNR072“ ausgewiesen. Sie beläuft sich auf 1.050 Euro, der Empfänger ist KVS Veranstaltung. Der Verwendungszweck legt nahe, dass es sich um die Miete für eine Semesterparty des Lehramtsreferats handeln muss. KVS Veranstaltung ist ein Veranstaltungsservice aus Rostock. Laut Website ist diese Firma spezialisiert auf Volksfeste, Kongresse und Konzerte – jedoch in Mecklenburg-Vorpommern.
Auf den ersten Blick scheint hier nichts auffällig zu sein. Es wurde eine Lehramtsparty gefeiert, dafür wurde extern eine Firma engagiert. Ungewöhnlich ist aber, dass die Kontonummer nicht zur angegebenen Veranstaltungsfirma gehört. Das wird aber erst fast zwei Jahre später auffallen.
Die Konten
Neben den Mitgliedern und dem Vorstand gibt es im Stura eine Reihe von Ehrenamtlichen und Angestellten. Dazu zählen Mitarbeiterinnen etwa für Technik und Campusmedien, aber auch mehrere Personen, die finanzielle Angelegenheiten regeln und Zugriff auf die Konten haben. Mit Beginn einer neuen Amtszeit werden dafür jedes Jahr Verantwortliche für Haushalt und Kasse vom Gremium bestimmt.
Teilweise haben Finanzverantwortliche die Stelle mehr als fünf Jahre inne, die Einarbeitung neuer Personen ist äußerst kompliziert. Erfordert wird ein umfangreiches Wissen über Finanzordnungen und Steuerrecht, weshalb es in der Vergangenheit immer wieder Auseinandersetzungen gab. Zuletzt stellte der Thüringer Landesrechnungshof erhebliche Mängel in der Haushaltsführung fest.
Jede Fachschaft hat ein eigenes Konto, dazu kommt das Hauptkonto und mehrere Girokonten für Projekte und Veranstaltungen. Haushalts- und Kassenverantwortliche sind für die Abwicklung des Zahlungsverkehrs im Stura zuständig.
Laut Thüringer Studierendenschaftsfinanzverordnung übernimmt ersterer die Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans und die Erstellung des Jahresabschlusses. Die Kassenverantwortung kümmert sich um die Buchführung und die Abwicklung des Zahlungsverkehrs. An der FSU sind beide befugt, Überweisungen vorzunehmen.
Eine Überweisung muss von mindestens zwei Personen bestätigt werden, nach dem sogenannten Vier-Augen-Prinzip. Ein Routineverfahren, das unter normalen Umständen auf weitere Kontrollmechanismen verzichten kann.
Das Verschwinden
Seit Frühjahr 2020 finden sich in den Dokumenten immer wieder Überweisungen, die wohl nicht an die angegebenen Empfänger gingen. Abgerechnet wurden Vorträge, Mahnungen, Partys. Mal sind es 230 Euro, mal 2496,88 Euro.
Erst ein Wechsel in der Mitarbeiterschaft Ende 2021 konnte das Verschwinden aufdecken. Die vier Augen mussten erst neu besetzt werden. Nachdem die Doppelüberweisung an die Versicherung auffällt, stößt man auf mindestens acht weitere Zahlungen im November und Dezember 2021, die auf ein Konto der Solarisbank gingen. Die Ergo-Versicherung wickelt ihre Geschäftsbeziehungen allerdings beim Kreditinstitut Unicredit ab. Mehr als 5.000 Euro wurden auf ein Konto der Solarisbank überwiesen, dessen Eigentümer bis dahin unbekannt ist.
Man lokalisiert das Problem zunächst extern. Noch herrscht gegenseitiges Vertrauen, es gibt ja das Vier-Augen-Prinzip. Eine Person aus dem Stura-Umfeld wird beauftragt, Anzeige über den fehlenden Betrag gegen Unbekannt zu erstatten.
Das Auffliegen
Zur Aufklärung der Unstimmigkeiten findet sich eine interne Gruppe zusammen, die mehr als 50.000 Seiten an Kontoauszügen überprüfen will. Schnell tauchen weitere Unklarheiten auf.
Zwischen Juni und Oktober 2021 gingen mehrere Überweisungen aus verschiedenen Haushaltstöpfen an einen Empfänger namens RN-Tec, ein Ebay-Händler, der gebrauchte Technik verkauft. Die Firma ist seit 2018 bei Ebay, der Firmenstandort befindet sich laut Impressum bei Nürnberg.
Auf den ersten Blick ist auch hier kein Betrug zu erkennen, doch die Unstimmigkeit folgt demselben Muster.
Im Zusammenhang mit RN-Tec geht es um fast 10.000 Euro. Die geschäftlichen Beziehungen mit der Firma sind nicht abwegig, gebrauchte Technik wird vom Stura gern gekauft, um die Kosten für die Studierendenschaft gering zu halten.
Was allerdings fehlt, sind Belege, die eine Geschäftsbeziehung nachweisen können. Irgendwann tauchen doch noch Rechnungen auf, nicht in Papierform, sondern als Handyfoto, angeblich von einer ehemaligen Mitarbeiterin. Auf dem Geschäftsbrief findet sich eine alte Bekannte: die Solaris-Bank. Misstrauen macht sich in der internen Gruppe breit. Ein Blick in die Metadaten wird bestätigen, dass das Bild nicht von einer ehemaligen Mitarbeiterin stammt. Die Rechnungen: höchstwahrscheinlich Fälschungen.
Was folgt, ist schwer nachvollziehbar und beruht wie die gesamte Nacherzählung auf den Aussagen beteiligter Personen, die das Akrützel kontaktierten und anonym bleiben möchten. Die verdächtigte Person soll von einigen Seiten unter Druck gesetzt worden sein, so dass sie letztendlich gesteht, die Überweisungen auf das eigene Konto durchgeführt zu haben. Menschen werden nun Tag und Nacht im Büro sitzen, Kontoauszüge wälzen und überprüfen, wie hoch der Schaden tatsächlich ist.
Die Öffentlichkeit
In der neunten Stura-Sitzung am 18. Januar wird das Thema erstmals im Gremium behandelt. Natürlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit, im Protokoll lässt sich später der Tagesordnungspunkt „Personalangelegenheit“ finden. Mehr als zwei Stunden wird hinter verschlossenen Türen debattiert, viele Informationen dringen dennoch vor die Hörsaaltür, weil sich nicht alle an die Schweigepflicht halten.
Der genaue Wortlaut dieser Debatte ist nicht bekannt. Es dringt nach außen, dass einige Mitglieder mit der Sache an die Öffentlichkeit gehen wollen. Eine Mitteilung an die Presse müsse veröffentlicht werden. Stimmen aus dem Gremium berichten aber auch, dass einige Mitglieder aus dem Dunstkreis der mutmaßlichen Verdächtigen bemüht sind, die Öffentlichkeit um jeden Preis aus dieser Sache herauszuhalten. Sie sollen versucht haben, die Schuld von einer Person auf mehrere abzuwenden und die Unstimmigkeiten als Systemversagen umzudeuten.
Dazu passt auch die Strategie der Wiwi-Schau, einer Telegram-Gruppe, die Beiträge des FSR Wirtschaftswissenschaften postet und laut eigener Beschreibung über „Klatsch u. Tratsch und das Neueste aus den Gremien, Hintergründe & Co“ berichtet. Der Stura beschließt am 25. Januar um 22:44 Uhr die Veröffentlichung einer Pressemitteilung zu den Vorfällen. Bereits eine Minute später prescht der Wiwi-Telegram-Kanal vor. In der Mitteilung „Studierendengelder im StuRa verschwunden“ spielen die selbsternannten FSR-Journalisten die Rolle der Verdächtigen herunter und sprechen von einem „handfesten Skandal“, der möglich wurde, „weil mehrere Angestellte des Studierendenrates nicht richtig oder nicht ausreichend hingesehen haben“. Die Ermittlungen würden sich nicht auf die Breite der handelnden Personen konzentrieren. „Auch die Innenrevision, die vorgibt, intensiv zu prüfen, hat über Jahre keine Unstimmigkeiten gefunden.“
Die Innenrevision, eine Kontrollinstanz uni-interner Geschäftsabläufe, weist diese Vorwürfe ausdrücklich zurück. Sie bekräftigt, nur Dokumente prüfen zu können, die der Studierendenrat ihnen gegeben hat. In der Vergangenheit sei es aber immer wieder zu Verzögerungen in der Zusendung angeforderter Dokumente gekommen. So lägen für 2019 und 2020 die Jahresabschlüsse und entsprechende Unterlagen noch gar nicht vor. Und selbst für die Prüfung des Jahresabschlusses 2018 sind bis heute noch nicht alle erbetenen Unterlagen bereitgestellt worden. Zu den Vorfällen, die erst 2020 begonnen haben sollen, könne die Innenrevision also noch gar keine Prüfungen angestellt haben.
Die veröffentlichte Pressemitteilung stellt nicht alle Stura-Mitglieder zufrieden. Am Ende beschließt man jedoch eine sehr vage Stellungnahme, die von Entdeckungen spricht, die auf einen Betrug hinweisen. Relevante Informationen werden mit Verweis auf laufende Ermittlungen zurückgehalten.
Die Folgen
Mehr als 38.000 Euro sind nach dem letzten Stand der internen Dokumente in den vergangenen zwei Jahren verschwunden. Bereits bevor das gesamte Gremium mit den Vorwürfen vertraut gemacht wurde, seien 15.000 Euro von einem Stura-Mitglied zurücküberwiesen worden. Nicht von der mutmaßlichen Verdächtigen, sondern von einer Gönnerin, die zuvor schon nicht mit einer ausführlichen Pressemitteilung zufrieden gewesen sein soll. Sie wolle damit Schaden von der Studierendenschaft abwenden. Weitere Ermittlungen seien demnach hinfällig.
Die mutmaßliche Verdächtige hält sich bedeckt, lange antwortet sie nicht auf Anfragen. Es kursiert ein Entschuldigungsschreiben, wahrscheinlich von ihr verfasst zur Erklärung ihrer Handlungen. Aus Persönlichkeitsschutz soll nicht weiter auf das Schreiben eingegangen werden, es liegt der Redaktion jedoch vor. Die Verdächtige zeigt sich zunächst gesprächsbereit. Sie habe gerade viel zu tun, könne aber schriftlich Fragen beantworten. Eine Rückmeldung gab es bis Redaktionsschluss nicht.
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