Die Jenaer Linke entdeckt gerade den gesellschaftlichen Zusammenhalt für sich und geht eine Verbrüderung mit der Mitte der Gesellschaft ein. Den Widerstand überlässt sie jenen, die mit Kerzen und Nazis um die Häuser ziehen und von einem neuen Deutschland träumen.
Von Johannes Vogt
Klaus ist heute nur zufällig hier. Eigentlich wollte er spazieren gehen, behauptet er zumindest. Eine Kerze hat er auch dabei. Er steht mit 500 Anderen auf dem Holzmarkt. Warum sie hier sind, verraten sie nicht. Von einer Demonstration wissen sie auch nichts. Die gesamte Versammlung wirkt wie ein Treffen von zu alt geratenen Demo-Amateuren. Die Versuche, Sprüche zu skandieren, verstummen schon nach der ersten Wiederholung, die Redebeiträge sind zu leise und sie haben vergessen, die Demo anzumelden. Nach einer Weile setzen sie sich trotzdem in Bewegung. Die Strategie ist einfach, erklärt ein Demonstrant: „Sobald die Polizei die Versammlung auflöst, laufen wir los.“
Die Demonstrationen sind vom Grundgesetz geschützt. Das Versammlungsrecht besteht für jeden, auch ohne Anmeldung oder Erlaubnis. Es kann aber durch Auflagen eingeschränkt werden. In einer pandemischen Situation bedeutet das: Maske tragen, Mindestabstand einhalten und eine begrenzte Anzahl an Teilnehmenden. Wenn die Demonstrant:innen die Auflagen nicht einhalten, kann die Polizei die Demonstration auflösen. Dazu wird es auch in Jena kommen.
Heike sorgt sich um ihre Zukunft
“Ich bin kein Coronaleugner. Ich bin kein Faschist. Ich bin kein Nazi“, sagt Heike. Auch sie trägt eine Kerze, eine Maske nicht. Sie ist Mitte 40 und arbeitet am Uniklinikum als Krankenschwester. Impfen lassen will sie sich nicht. Deshalb sorgt sie sich um ihre Zukunft. „Ich habe einen Impftermin, weil mir die Klinik sonst meine Existenzgrundlage nehmen würde. Ich darf sonst nicht mehr arbeiten.“ Sie hat Angst vor den Impfschäden. Die kenne sie schon von Bekannten. An die Nützlichkeit der Impfung glaubt sie nicht. Sie kenne die Situation im Krankenhaus und die widerspricht den Statistiken. Deshalb vertraut sie lieber sich selbst: „Die Zahlen werden geschönt.“
Seit Beginn der Pandemie demonstrieren in Jena immer wieder Menschen gegen die Maßnahmen. Am Anfang ging es dabei nur um eine kleine Gruppe. Seit November letzten Jahres kommt es aber zu einer neuen Welle des Zuspruchs. Jeden Montag gehen bis zu 800 Menschen auf die Straße. Viele von ihnen gehen das erste Mal demonstrieren. Sie vertrauen nicht mehr auf Medien, Politik und Wissenschaft. Was sie eint, ist ein Gefühl. Das Gefühl des Misstrauens.
Der Demozug wird an diesem Tag nicht weit kommen. Die Polizei kesselt einen Teil in der Gasse zwischen Marktplatz und Stadtkirche ein, der Rest wird auf der Johannisstraße von der Gegendemonstration blockiert. Nach einer guten Stunde löst sich die Versammlung auf. Übrig bleiben feiernde Gegendemonstrant:innen und ihre laute Musik.
Die Linken und ihre Solidarität
Vor zehn Jahren hätte es sowas nicht gegeben. Damals war der gutsituierte Familienvater konservativ und hielt nichts von den Schreihälsen auf der Straße: Mit Sachverstand und Gespür für das Mittelmaß musste Politik gemacht werden, nicht mit unrealistischem Idealismus und Hang zum Widerstand. Heute hat sich das Blatt gewendet. Der Widerstand hat die Seiten gewechselt. Um gesellschaftliche Stabilität sorgen sich heute andere: die linke Szene Jenas. Sie nennen es Solidarität.
Linke seien oft und gerne dagegen, sagt Susanne: „Linkssein bedeutet aber auch solidarisch sein. Die logische Schlussfolgerung daraus ist, sich für die Impfung einzusetzen. Da kann man dann auch mal dafür sein.“ Susanne studiert in Jena angewandte Ethik und Konfliktmanagement. Als Teil des Bündnisses Jena Solidarisch beteiligt sie sich an den Demonstrationen gegen die sogenannten Spaziergänge – „Against the silly Walks“ hieß einer der Demoaufrufe. Sie kritisiert die Verantwortungslosigkeit der Demonstrant:innen: „Ihnen geht es um eine Freiheit nach dem Motto: Ich kann tun und lassen was ich will, komme was wolle. So kann keine Gesellschaft funktionieren. Natürlich kann man staatliche Maßnahmen kritisieren, aber man muss auch die wissenschaftlichen Fakten anerkennen.“
Susanne sieht aus, wie man sich eine linke Aktivistin vorstellt: kurzrasierte Haare, Piercing in der Nase, tätowiert. Sie sagt, was sie denkt. Natürlich hält sie nicht viel von Nazis. Von denen gibt es aber zu viele in der Jenaer Querdenkenszene, findet Susanne. Es bilde sich dort eine Querfront. Gerade die Unorganisiertheit mache es schwierig, einen Überblick zu behalten. „Die Demonstrationen werden nicht angemeldet. Viele bekommen nur über unmoderierte Telegramchats oder Mundpropaganda davon mit und am Ende bleibt die Frage: Wer steckt eigentlich dahinter?“
Unterstützung aus der Mitte der Gesellschaft
Das Bündnis Jena Solidarisch ist hervorgegangen aus einer Vernetzung von JG Stadtmitte, Grüner Jugend Jena und der Gruppe Solidarität statt Querdenken. Der Impuls kam aus Jenas linker Szene, mittlerweile hat sich aber weitere Unterstützung aus der gesellschaftlichen Mitte gefunden. Auch der Studierendenrat der FSU zählt sich dazu. Der Eilantrag zur Solidarisierung mit den Gegenprotesten wurde angenommen – gegen den Widerstand des konservativen Ring Christlich-Demokratische Studenten (RCDS): „Eine Solidarisierung mit linksextremistischen Gruppierungen durch eine offizielle Institution der Universität zeigt die wahre Intention einiger Stura-Mitglieder“, erklärt Lukas Meyer. Damit meint er wohl die sechs Menschen der Ende Gelände-Ortsgruppe, die sich mit dem Bündnis solidarisiert haben. Das Stura- und RCDS-Mitglied fordert deshalb eine eigene Initiative der Universität, um sich gegen die „Spaziergänge“ in Jena zu positionieren.
Auch Jenas Stimme im Bundestag und SPD-Mitglied Holger Becker unterstützt das Bündnis. Er sorgt sich auch um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft: „Den Leuten stinkt die Pandemie.“ Die Impfung sei der einzige Weg daraus. Solange es dazu keine Alternative gibt, könne er nicht verstehen, warum Leute gegen die Impfung demonstrieren. Außerdem kritisiert er die unglückliche Melange auf den Demonstrationen. Der Thüringer Verfassungsschutz kommt bereits in seinem Bericht 2020 zu dem Schluss, dass rechte bis rechtsextreme Akteur:innen die Coronademonstrationen instrumentalisieren, wenn sie dort auch nicht die Oberhand haben.
Wandertag mit Nazis
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt David. Er gehört zu dem antifaschistischen Rechercheportal Jena-SHK. Aus Sicherheitsgründen möchte er seinen Namen nicht bekannt geben. Seit Beginn der Proteste 2020 beschäftigt er sich mit deren Szene. Er glaubt nicht, dass es dort eine feste Gruppe gibt, die hinter den Demoaufrufen steckt. Ein großer Teil der informellen Organisations- und Kommunikationsstrukturen habe aber einen Hintergrund in der rechten Szene oder arbeite zumindest eng mit Rechten zusammen. Er nennt einige Beispiele: Wilhelm Tell, ein bekannter Jenaer Neonazi und Alter Herr der rechtsextremistischen Burschenschaft Normannia, laufe seit Beginn der Demonstrationen immer vorne mit. In einer Telegramgruppe gab Tell damit an, dass er immer ein Messer mit auf die Demonstrationen nehme.
Jens Thino Friedrich sei ein weiterer gut vernetzter Rechter Jenas. Er schrieb nicht nur für das rechtsextreme Compact Magazin und kommentiert online die Proteste, sondern melde auch immer wieder Versammlungen an. Außerdem versammelten sich bei den Protesten weitere Neurechte Akteure und Personen aus der Neonazi-Hooligan Szene.
David ist deshalb der Meinung: Bei den Demonstrationen verschwimmt die Abgrenzung nach rechts. „Die Stärksten setzen sich über die Bedürfnisse anderer hinweg. Wenn dieselben Leute dann mindestens gleichgültig mit organisierten Nazis demonstrieren, dann müssen auch Hippies, Waldorf-Eltern oder „Unpolitische“ damit leben, dass sie ideologisch und praktisch Teil einer rechten Bewegung sind.“
Die Entdeckung der Mitte
Was Holger Becker, Susanne und David gemeinsam haben: der Glaube an die Solidarität. Man müsse sich solidarisch zeigen mit Pflegepersonal, Risikogruppen und Menschen, denen es schlechter geht als einem selbst. Von SPD bis Antifa entdeckt die Jenaer Linke gerade den gesellschaftlichen Zusammenhalt für sich und verbrüdert sich deshalb mit der Mitte der Gesellschaft. Sie demonstrieren für die vermeintliche Mehrheit, für kollektive Verantwortung und Zusammenhalt. Den Widerstand überlässt sie währenddessen Anderen. Die ziehen hingegen mit Kerzen und Nazis um die Häuser und träumen von einem neuen Deutschland, einem rücksichtsloseren und deutscheren Deutschland. Natürlich nicht alle, aber doch ein Teil, der groß genug ist, um zu sagen: Das ist nicht die Mitte der Gesellschaft!