Klassiker: Dinner for One

In dieser Serie widmen wir den vermeintlichen und echten Meisterwerken unsere Liebeserklärungen und Hasstiraden. Diesmal: Dinner for One. Von Lars Materne

Unglaublich, aber leider wahr: Dinner for One wird seit 1972 jedes Jahr im TV gezeigt. Es wird Zeit, diese unerträgliche Tradition endlich zu zerstören, denn auf mehreren Ebenen spiegelt sie all den gesellschaftlichen Schmutz wider, von dem man sich befreien muss. Wer genau hinschaut, sieht, was bei Dinner for One inszeniert wird. Neben dem unglaublich bemitleidenswerten Humor zeigen sich nämlich kapitalistische Ausbeutung, kolonialistisches Erbe und Alkoholismus sowie Vereinsamung, Sexismus und German Angst.

Als Teil des Service-Proletariats hat Butler James den Wünschen von Miss Sophie zu gehorchen, während sie ihren Reichtum zur Schau stellt. Das Dienen ist charakteristisch für die Beziehung zwischen Proletariat und der Bourgeoisie. Der Dresscode macht die Inszenierung vollständig – er im schwarzen Frack und sie im Festkleid. Dem Publikum wird eine faire Behandlung vorgespielt, doch selbst im Hintergrund bewacht die Ahnengalerie die andauernde Unterdrückung.

Auch eine weitere Requisite verweist auf eine gesellschaftliche Schuld, über die es nichts zu lachen gibt. Der Tigerkopf, über den Butler James immer wieder stolpert, erinnert an den Kolonialismus, also an eine Zeit, die für Miss Sophies Familie wohl glorreich war und für viele schmerzlicher Teil der nationalen Identität ist. Zudem mahnt der Tigerkopf, dass wir die Welt weiterhin kolonialisieren. Wir beuten nicht mehr Menschen aus, sondern die ganze Natur, sodass der Tiger zum Symbol von bedrohten Tierarten wird.

Im Laufe des Sketches stolpert der arme Butler James nicht nur über den Tigerkopf, sondern auch über seine eigene Trunkenheit. Das deutsche Publikum freut sich darüber, denn es liebt den Alkohol selbst. Ein Prosit auf die Leberzirrhose!

Um weiterhin lachen zu können, werden skrupellos die Augen vor Miss Sophies Einsamkeit verschlossen. Das Rollenspiel von Butler James, bei dem Miss Sophies Gäste imitiert werden sollen, ist das Kernstück des Sketches oder auch Ausdruck der gesellschaftlichen Gleichgültigkeit, mit der einsamen Menschen begegnet wird. Ich frage mich jedes Jahr, ob Miss Sophie dement ist oder sie das Spielchen bei vollem Bewusstsein mitspielt.

Natürlich darf auch am Ende ein flapsig gemeinter Kommentar von Butler James – „I will try my best” Zwinkersmiley – nicht fehlen, um mit einem Hauch Sexismus aufzuzeigen, wer auch ohne Trunkenheit nie Herr seiner Selbst war, aber immer meinte, Herr über die Frau sein zu müssen – widerlich.

Doch Traditionen sollen erhalten bleiben, weshalb Dinner for One weiter und weiter läuft. Das deutsche Publikum löst sich nicht gerne von ihren liebgewonnenen Traditionen. Die German Angst ist international bekannt, obwohl es German Mut bräuchte, um den gesellschaftlichen Schmutz, der sich im Sketch manifestiert, abzuwaschen. Ironischerweise kommt Dinner for One vor Null Uhr und somit gibt es keinen Grund, mit schlechtem Gewissen ins neue Jahr zu starten, denn für das gute gibt es den Neujahrsvorsatz. Wie wäre dann mal der Vorsatz, Dinner for One nicht nur einmal im Jahr zu schauen, sondern jeden Tag, um daran erinnert zu werden, was alles gesellschaftlich noch schiefläuft? Einmal im Jahr reicht wohl nicht aus. Ich glaube, ich habe gerade meinen Neujahrsvorsatz für 2022 gefunden.

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