Da haben wir die Bolognese

Der Bologna-Prozess erntet seit über 20 Jahren Gezetere und Kritik. War die Hochschul-Reform der Untergang des akademischen Abendlandes?

Von Lukas Hillmann und Leonard Fischer

Die italienische Universitätsstadt Bologna kann Pasta. Die Lasagne kommt von hier. Ebenso die Tortellini, Tagliatelle und natürlich die Bolognese-Soße. Aber kann Bologna auch Uni?
Bologna ist komplex. Zum besseren Verständnis kämpfen sich in diesem Text zwei Studierende durch den akademischen Reform-Dschungel: Birgit studierte noch in der Prä-Bologna-Ära den Magister, Andi in der Bologna-Epoche Bachelor und Master.
Wir schreiben das Jahr 1988. Die Universität Bologna feiert ihren 900. Geburtstag. Zur Party kommen fast 400 Universitätspräsident:innen aus aller Welt und unterschreiben die Magna Charta Universitatum, welche die Freiheit und Einheit von Lehre und Forschung betont. Diese Charta sollte zu einem Ausgangspunkt für den Bologna-Prozess werden. 11 Jahre später: diesmal ohne Party, dafür mit 29 europäischen Bildungsminister:innen. Sie unterzeichnen in der Aula Magna der ältesten Universität Europas eine gemeinsame Erklärung zum europäischen Hochschulraum: Die Bologna-Reform war geboren.

Mhmm, schön billig.
Foto: Tim Große


Doch: Was sollte das überhaupt? Zuerst einmal bedeutete es die europaweite Harmonisierung der akademischen Ausbildung. Im Zuge der Reform wurden die Magister- und Diplom-Studiengänge abgeschafft und das Bachelor- und Master-System eingeführt, nach dem heute gut 75 Prozent der Studierenden ausgebildet werden. Lediglich medizinische und rechtswissenschaftliche Studiengänge wurden bis heute nicht reformiert und bilden die Studierenden außerhalb des Systems aus. Das Jenaer Modell der Lehrer:innenbildung ist auch auf die Reform zurückzuführen. Es wurde modular gestaltet, führt aber noch heute zum Staatsexamen – ein Sonderfall in der Studienorganisation.

Zur Party kommen fast 400 Unipräsident:innen aus aller Welt.

Durch die internationale Vergleichbarkeit der Studienleistungen sollte der Bologna-Prozess einen einheitlichen europäischen Hochschulraum schaffen und so die internationale Mobilität für Studis wie Andi erhöhen. In der Praxis ist jedoch nicht jeder Glanz gleich Gold und so diskutieren zahlreiche Akteure auch 20 Jahre nach dem folgenreichen Treffen der Bildungsminister:innen, wie sehr dieses Ziel erreicht wurde oder eben nicht.
Die Reform brachte den Studierenden zunächst eines: Unsicherheit. Das Internationale Büro freute sich jedenfalls über zahlreiche Anfragen. Thomas Klose, stellvertretender Leiter der zentralen Studienberatung, bestätigt auch, dass durch die Reform Auslandsaufenthalte zunächst zurückgegangen sind – eine kontraproduktive Entwicklung. Ein Problem sei das Zeitempfinden: Andi beschäftigt, wie er seinen Auslandsaufenthalt mit den neuen Regelstudienzeiten von sechs (Bachelor) oder vier (Master) statt neun Semestern vereinbaren kann. Die Einteilung in Bachelor und Master bedeutet eine gefühlte Kürzung der verfügbaren Zeit, was Auslandsaufenthalte schwieriger planbar macht. Birgit musste mit diesem Problem nicht kämpfen. Für sie bot sich ein Auslandsaufenthalt meist nach der Zwischenprüfung an, da zu diesem Zeitpunkt noch genügend Zeit für die Abschlussprüfung blieb.

Es war nicht alles schlecht

Wie war sie denn, diese sagenumwobene Zeit vor Bologna? Nun, vor allem anders. Technisch ausgerichtete Studiengänge schlossen mit einem Diplom ab, während Studierende in den Geisteswissenschaften einen Magister erwarben. Sie wählten hierfür ein Hauptfach und zwei Nebenfächer. Birgit genoss ihr Studium noch an einem Stück. Trotz einer Zwischenprüfung nach dem Grundstudium erlangte sie ihren ersten Hochschulabschluss also erst nach üblicherweise neun Semestern mit einer gewaltigen Abschlussprüfung.
Während des Studiums musste Birgit fünf Leistungsnachweise erbringen, das konnten Hausarbeiten oder Referate während eines Seminars sein. Außerdem musste sie Teilnahmescheine erwerben, um zu verdeutlichen, dass sie sich mit dem Stoff während des Studiums auseinandergesetzt hatte. Thomas Klose von der Studienberatung erinnert sich: „Der Stundenplan war immer ein großes Problem. Es gab keine Musterstudienpläne und das System war insgesamt schwer zu verstehen. Im September und Oktober standen die Leute bei uns Schlange.“
Die Note setzte sich damals – im Gegensatz zum modularen System heute – nicht aus mehreren Leistungen zusammen. Am Ende des Studiums stand eine Magisterprüfung, die die Note des Studienabschlusses bestimmte. Vorteilhaft war, dass Birgit mehr Zeit hatte, in das System hineinzuwachsen. Jedoch wurde dieser Punkt auch viel kritisiert, da es einen hohen punktuellen Druck ausübte. Die zweite Seite der Medaille war aber, dass Birgit im Magister höchstens vier Prüfungen pro Semester ablegte – ein Pensum, das Andi auch mal in einer Woche erbringen muss.

„Das System war insgesamt schwer zu verstehen.“

Das Leistungspunktesystem ECTS startete an der FSU im Jahr 2005. Das European Credit Transfer and Accumulation System erleichtert für Andi die Vergleichbarkeit seiner Studienleistungen. Er leistet seitdem im Normalfall 30 Leistungspunkte pro Semester, wobei Andi für jeden Leistungspunkt – zumindest theoretisch – 30 Arbeitsstunden ackern muss. Eine zentrale Umstellung für die FSU bedeutete auch, dass seit Bologna die Studiengänge extern begutachtet werden – Stichwort Qualitätsmanagement. Zuletzt hatte die Bologna-Erklärung das Ziel gesetzt, die Mobilität von Studis wie Andi zu verbessern.
Die FSU begann im Jahr 2005 – gestaffelt nach Fakultäten – mit der Modularisierung der Studiengänge. Im Jahr 2010 wurden die letzten Studiengänge akkreditiert und die Umstellung damit abgeschlossen.

Keiner weiß mehr, wie es vorher war

Andis Generation hat keinen Plan, wie das Studium vor Bologna war. Torsten Oppelland hingegen lehrt seit 1993 an der FSU. Bei allen Umwälzungen durch die „Bologna-Revolution“, wie manche die Reform auch prätentiös betiteln, bemerkt der Direktor des Instituts für Politikwissenschaft jedoch kaum Auswirkungen auf seinen Arbeitsalltag als Dozent. „Der wichtigste Unterschied ist vielleicht der höhere Grad an Standardisierung.“ Andi benötigt heute die Chance, Prüfungen in späteren Semestern nachzuholen. Negativ bewertet der Professor vor allem den wachsenden Prüfungsdruck durch mehr Modulklausuren pro Semester. „Asche auf unsere Häupter – das hat auch etwas damit zu tun, dass es Lehrenden schwerfällt, die Prüfung im eigenen Bereich für weniger wichtig oder gar verzichtbar zu halten und abzuschaffen“, so Oppelland.
Der erste berufsqualifizierende Hochschulabschluss – auch Bachelor genannt – bietet viel Licht und Schatten. Wenn die Anglistik-Studentin erst im sechsten Semester ihre Abneigung für Sprachen feststellt, kann sie bis zum ersten Abschluss noch die Zähne zusammenbeißen und im Master zur Bioinformatik wechseln. Für den Psychologie-Studenten bedeutet das Bachelor-Studium indessen einen erbarmungslosen Notenkampf um einen Master-Platz.

Lehre am Limit?

Aber welches System ist nun besser? Wie so oft sind die Änderungen durch Bologna eine Frage der Perspektive. Die Reform hat das Studium zumindest transparenter gemacht. Die Lernziele der Module sind nun ebenso klar wie die Inhalte und öffentlich einsehbar. Im Rahmen der Qualitätssicherung hat Andi zudem an Einfluss gewonnen und kann sich mit seinen Kommiliton:innen aktiv an der Evaluation und Verbesserung seines Studiengangs beteiligen. „Die Umstellung auf Bachelor und Master war anstrengend und wie alle Universitäten stöhnen auch wir über die Anforderungen für die Systemakkreditierung“, so Walter Rosenthal, Präsident der FSU. Doch bringt die detailliertere Ordnung der Studiengänge für die Geschichtsstudentin mehr Orientierung oder mehr Knebelung? Was für den Germanisten die helfenden Leitplanken auf dem Weg zum Abschluss sind, mögen für die Soziologin der modularisierte Käfig des eigenen Studienfachs sein. Präsident Rosenthal bestätigt: „Die Bologna-Reform erschwert eine studienfachübergreifende Orientierung – den berühmten Blick über den Tellerrand.“

Während Andi schon im ersten Semester Höchstleistungen erbringen muss, konnte Birgit noch mit langen Nächten und einigen Sterni im Para ins Studium reinwachsen.

Kritiker:innen monieren mit Bologna den Abschied vom Bildungsideal Wilhelm von Humboldts, in dem die ganzheitliche Ausbildung und die Idee der Einheit von Forschung und Lehre im Vordergrund stehen. Der Bologna-Prozess zielte hingegen darauf ab, möglichst schnell die „Arbeitsmarkteignung” von Andi herzustellen. Die geistige Entwicklung junger Menschen wird damit von einem normativen Wert zur kapitalistischen Ware.
Der gewachsene Prüfungsdruck ist eine Konsequenz von Bologna: Alle Noten zählen. Während Andi schon im ersten Semester Höchstleistungen erbringen muss, konnte Birgit noch mit langen Nächten und einigen Sterni im Para ins Studium reinwachsen. Bevorzugt Andi seinen permanenten subtilen Leistungsdruck mit mehreren Bugwellen über das gesamte Bologna-Studium hinweg? Oder hätte er lieber wie Birgit langes ruhiges Fahrwasser mit einem Tsunami und monatelanger sozialer Schreibtisch-Isolation am Ende des Magister-Studiums?
Ist Bologna nun geglückt oder gescheitert? Thomas Klose von der Studienberatung möchte sich nicht festlegen: „Mit Bologna gab es Träume, die sich erfüllt haben, und solche, die sich nicht erfüllt haben.“ Er empfiehlt, die Prä-Bologna-Ära auch weiterhin kritisch zu betrachten: „Es war nicht das gelobte Land.“ Zwar sei unklar, was denn nun der angestrebte gemeinsame europäische Hochschulraum sei. Gleichzeitig ist der Wechsel des Studiengangs – national wie international – ohne Zweifel einfacher geworden.
FSU-Präsident Walter Rosenthal relativiert die Kritik an Bologna ebenso: „Die Abschlüsse der deutschen Universitäten haben noch immer den gleichen hohen Stellenwert – im Inland wie im Ausland. Stattdessen hat Bologna wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der Hochschulsysteme in Europa gegeben und der Internationalisierung neue Möglichkeiten eröffnet.“
Um Bologna wird viel Drama gemacht. Rosenthal hält davon nichts: „Der Untergang des Abendlandes, der mit der Überführung der Diplome in das angelsächsische Bachelor/Master-System ausgerufen wurde, hat nicht stattgefunden.“ Die Erfolge sind da, doch bleiben auch Probleme. Andi wird das Ende des Bologna-Prozesses während seines Studiums vermutlich nicht mehr erleben. Auch über 20 Jahre nach dem Treffen in der Stadt der Lasagne tut der Prozess, was ein Prozess eben tut: Er verändert. Der FSU-Präsident bestätigt: „Wir sind noch mittendrin.“

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