Sind wir jetzt alle psychisch krank?

Im dritten Digitalsemester ist die Motivation von Studierenden auf weitere Online-Lehre ziemlich gering. Aber wie wirken sich die Bedingungen auf Ihre Psyche aus und wo wird ihnen geholfen?

Von Henriette Lahrmann und Ariane Vosseler

Die Studienzeit ist bekannt als die Zeit im Leben, um sich auszuprobieren, Fehler zu machen und vor allem, um neue Kontakte zu knüpfen. So kannten viele ihr Studium und so haben sich auch Erstsemester ihr zukünftiges Leben vorgestellt. Seit ungefähr einem Jahr ist das nicht mehr so, die neue Normalität sieht anders aus: Der Tag beginnt nicht mit dem Gang zum Campus, sondern mit dem Aufklappen des Laptops, meistens noch im Bett, um sich sein erstes Seminar über Zoom anzuschauen. Danach geht es weiter mit einer aufgezeichneten Vorlesung oder vielleicht mit einem Tutorium, ebenfalls über Zoom, wenn man denn dafür die Motivation aufbringt. Man sieht seine Kommiliton:innen nicht mehr neben sich im Hörsaal sitzen, sondern in kleinen Kacheln über Zoom, wenn überhaupt. Gerade für Studierende, die in den letzten drei Semestern ihr Studium begonnen haben, ist es besonders schwer, Anschluss zu finden. Es ist nicht mehr in Frage zu stellen, dass die Studierenden von einer besonderen Belastung durch die Digitalsemester betroffen sind. Welche Angebote hat die Hochschule, um Studierende in dieser Situation zu unterstützen?

Gefangen in 16:9. Foto: Dominik Itzigehl


Das Studierendenwerk bietet eine psychosoziale Beratung an, eine kostenlose Anlaufstelle für alle Studierenden in Thüringen. „Man braucht keine Riesenprobleme, um sich bei der Beratung Hilfe zu suchen“, sagt Dina Thäle-Hoffmann. Sie rät Studierenden sich an sie zu wenden, wenn man merke, dass man mit einem Problem alleine nicht mehr vorankommt. Die studierte Sozialwissenschaftlerin arbeitet als eine der neun Berater:innen in den Beratungsstellen in Jena und Weimar. Sie berichtet davon, dass es zwar im März 2020 einen Einbruch der Anfragen gab, sie aber zu Beginn des letzten Wintersemesters stark angestiegen sind. Schon immer waren die Anfragen zu Semesterbeginn höher, jedoch sind diese sonst mit den Semesterferien auch wieder abgeklungen. Jetzt erklärt Thäle-Hoffmann aber: „Es war so, als ob wir zwischen dem letzten Wintersemester und dem jetzigen Sommersemester gar keine spürbaren Semesterferien gehabt hätten.“
Eine von den vielen neuen Anfragen kam von der 26-jährigen Leah*, die Biologie und Englisch im Lehramt an der FSU studiert. Sie sagt, dass Corona zwar nicht der Hauptgrund gewesen sei, warum sie sich an die Beratungsstelle des Studierendenwerks wandte, aber es habe bei ihr zur psychischen Belastung neben einer Krise mit ihrer Abschlussarbeit und Beziehungsproblemen beigetragen. Das Angebot der psychosozialen Beratungsstelle sei ihr schon länger bekannt gewesen, aber bis zu Beginn des letzten Wintersemesters habe sie nicht das Gefühl gehabt, es zu benötigen. 
Die Probleme, mit denen Studierenden zu ihnen kommen würden, wären an erster Stelle Selbstwert- und Identitätsprobleme, erklärt Thäle-Hoffmann, gefolgt von depressiven Verstimmungen und Angstzuständen. Erst danach würden studiumsbezogenen Probleme wie die Wahl des richtigen Studiengangs, Arbeitsmanagement, Prüfungsangst und Abschlussangst kommen. Durch die zurückliegenden Digitalsemester sei jetzt noch im ungewohnten Ausmaß das Thema Einsamkeit hinzugekommen, wie es auch Leah berichtet.

Was jetzt wichtig ist

Auch wenn Thäle-Hoffmann aufzeigt, dass die Möglichkeit, normal studieren zu können, die Lage für die Studierenden enorm verbessern würde, sei ihr natürlich klar, dass das in der momentanen Situation so nicht möglich sei. Deswegen sei eine gute Kommunikation zwischen der Uni und den Studierenden umso wichtiger. Aufgefallen sei ihr auch, dass eine Trennung zwischen Freizeit und Studium momentan kaum möglich sei und daher Arbeitsräume außerhalb des eigenen Zimmers sehr hilfreich wären.
Studierenden, die unter den Belastungen des Online-Studiums leiden, empfiehlt Thäle-Hoffmann auch online Gruppenangebote wahrzunehmen. Außerdem sei es in dieser Zeit besonders wichtig, einen ehrlichen Umgang mit sich und anderen zu pflegen und sich auszutauschen. Negative Gefühle wie Wut oder Trauer sollte man sich eingestehen und zulassen. „Es ist unglaublich wichtig zu wissen, dass man nicht alleine ist.“ Vor allem für Erstsemester und Menschen, die es sowieso schon schwer hatten mit neuen Menschen Kontakte zu knüpfen, sei es jetzt noch schwieriger: „Früher hat man sich schon durch hilflose Blicke kennengelernt. Jetzt muss man sehr kreativ sein, um den Kontakt zu finden.“

Keine Beratung scheuen

In ihren letzten Sitzungen hat Leah gemerkt, dass sie von weniger Problemen erzählte und die Beratung nicht mehr benötigte. Sie traf aber mit der beratenden Person die Abmachung, dass sie sich meldet, falls es ihr wieder schlechter geht. „Wenn man das Gefühl hat, dass eine Beratung einem gut tun kann, dann ist das meistens auch so“, sagt Leah. Sie will andere Studierende ermutigen, sich auch bei der Beratung zu melden, selbst wenn sie denken, dass sie dazu nicht berechtigt ist.
Eine weitere Anlaufstelle stellt das studentische Gesundheitsmanagement dar. Dieses bietet zum Beispiel Veranstaltungen zum Thema psychische Gesundheit an. Am von ihnen organisierten Forum psychisch fit studieren hat auch das Akrützel teilgenommen. Das Ziel des Forums, das von Yvonn Semek vom Verein Irsinnig Menschlich e.V. geleitet wurde, war es, das Thema psychische Gesundheit offener zu machen und Orientierung zu geben. Vor allem möchte Semek die Teilnehmer:innen dazu ermutigen, nicht erst zu warten, bis sie in einer Krise stecken, sondern sich schon vorher Strategien zu überlegen.
Wie wichtig das Thema gerade für Studierende ist, zeigten auch die Statistiken, die Semek vorstellte: Ein Viertel der Studierenden leiden unter starken Stress. Das muss man noch von psychischen Erkrankungen abgrenzen, diese betreffen mindestens ein Sechstel. Ein großer Teil der Studierenden, die ihr Studium abbrechen, tun dies aufgrund von psychischen Erkrankungen. Semek, erläutert aber: „Dass muss nicht sein. Wenn man sich Hilfe sucht, kann ein Studium auch mit einer psychischen Erkrankung gut machbar sein.“
Aber wie kommt es überhaupt zu psychischen Erkrankungen? Wie hoch die eigene Gefährdung dafür ist, hängt von einer genetischen Disposition und Erfahrungen beim Heranwachsen ab. Meistens entwickelt sich daraus erst dann eine Krankheit, wenn das innere Gleichgewicht gestört wird. Das kann auch durch einen neuen Lebensabschnitt wie den Studienbeginn passieren. Einzelne Befindlichkeiten und schlechte Tage hat jede:r, wenn diese aber nicht mehr aufhören, dann sollte man sich an jemanden wenden. Dieser erste Schritt sei meistens der schwierigste, aber auch der wichtigste, meint Semek. 
 

Theologische Seelsorge

Neben der psycosozialen Beratung und dem studentischen Gesundheitsmanagement beschäftigt sich auch die theologische Seelsorge der Universität mit der psychischen Gesundheit. Diese wird von der Hochschul- und Studierendenpfarrerin Constance Hartung geleitet. Ihre Aufgabe sieht sie vor allem darin, einen geschützten Ort zu bieten, an dem sich Menschen aussprechen können. Sie bietet zwar auch keine Therapie an, eine Verschwiegenheitspflicht gilt für sie aber genauso. Meistens melden sich bei ihr Studierende, das Angebot richte sich aber an alle Angehörigen der Hochschule. Es sei auch nicht wichtig, ob man christlich sei, stattdessen erklärt sie: „Alle sind willkommen und missionieren möchte ich niemanden.“ Wenn es sich aber jemand wünsche, biete sie auch spirituelle Beratung oder Gebete an. 
Als besonders betroffen sieht sie zurzeit auch ausländisch Studierende, diese hätten weniger Kontakte und viele hätten ihre Minijobs, mit denen sie ihr Studium in Deutschland finanzieren konnten, verloren. Aber auch Menschen mit Essstörungen hätten es seitdem noch schwerer, da ihnen ihre Routine jetzt fehle.
Überraschend war eine Beobachtung Hartungs, die gegenteilig zu der von Thäle-Hoffmann ist: seit Beginn der Onlinesemester seien bei ihr die Anfragen zurückgegangen. Da sie nicht davon ausgeht, dass es den Studierenden seitdem besser geht, bereitet ihr das Sorgen. Stattdessen befürchtet sie, dass für manche kein geschütztes Anrufen mehr möglich ist. Viele Gespräche entstanden sonst auch dadurch, dass Studierende bei Präsenzveranstaltungen auf sie zukamen. 
Ein Mangel an Präsenz wirkt sich also in vielerlei Hinsicht auf die psychische Gesundheit der Studierenden aus. Es ist wichtig, dass man sich deswegen frühzeitig Gedanken darüber macht, wie man am besten durch diese Zeit kommt und wo man sich Unterstützung holen kann. Anlaufstellen gibt es mittlerweile sehr viele, sie sind bei weitem nicht auf die drei hier genannten beschränkt. Es lohnt sich vielleicht auch, um aus dem Trott des Digitalsemesters zu kommen, Präsenz ein bisschen nachzuspielen. Man läuft zwar morgens nicht mehr zum Campus, aber vielleicht schafft man es hin und wieder, eine kleine Runde an der frischen Luft zu drehen und kann so manchen Fußweg simulieren.
 
*Name von der Redaktion geändert.

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