Mit 63 Jahren, da fängt das Studium an

Wer im Ruhestand noch einmal studiert und sich mit jungen Menschen austauscht, lebt eher diverses Miteinander als in einsamer Stille. Welche Hürden birgt ein Studium im betagten Alter?

Von Lars Materne

Auf dem Campus der FSU sind einige Studierende. Sie unterscheiden sich in ihrer Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht. Als Siegfried Häuser zum Interview auf dem Ernst-Abbe-Platz erscheint, wird ersichtlich, dass Vielfalt an der Universität hauptsächlich von jungen Menschen repräsentiert wird. Ohne ein Gespräch mit dem 79-Jährigen bliebe Siegfried wohl eher ein zufälliger Senior auf dem Campus und wenigen käme in den Sinn, dass er ein Kommilitone ist oder gewesen sein könnte. Mangelt es an Vorstellungskraft, fehlt es den Älteren für ein Studium an Motivation oder gibt es materielle Hürden, die es verhindern, dass an der Universität das Miteinander durch mehr Senior:innen vielfältiger wird?
Mit 63 Jahren und niedriger Rente wollte Siegfried für sich eine finanziell bessere Perspektive entwickeln und setzte sich das Ziel, zumindest bis zum ersten Staatsexamen Jura in Jena zu studieren, um bestenfalls danach freiberuflich als Jurist tätig zu sein oder sich wenigsten beim Schreiben satirischer Texte vor rechtlichen Folgen selbst schützen zu können. An der FSU haben Senior:innen wie er unterschiedliche Angebote, um sich Wissen ganz nach dem Motto des „Lebenslangen Lernens“ anzueignen. Die ganze Fülle eines Studiengangs erhalten sie, wenn sie sich für ein Studium einschreiben.

Siegfrieds Leidenschaft für das Recht hat selbst das BGB der DDR überdauert 
Foto: Lars Materne


Dieses Semester sind sechs Senior:innen eingeschrieben. Wie alle anderen Studieninteressierte haben auch sie die Zugangsbedingungen zu erfüllen, müssen jedoch für das Lehrangebot zusätzlich zum Semesterbeitrag eine Studiengebühr von 250 Euro pro Semester zahlen. Seit 2006 ist im Thüringer Hochschulgesetz für alle Studierende über 60 Jahren eine Gebühr von mindestens 125 und höchstens 500 Euro festgeschrieben. Die Hochschulen haben somit zwar einen gesetzlichen Spielraum, das Studium im Alter und Vielfalt unter den Studierenden gibt es aber immer gegen eine Gebühr. Befreit von der Gebühr werden nur Personen mit Grundsicherung oder wenn sie einen Härteantrag stellen.

Leidenschaft, große Pläne und eine Studiengebühr, die ausbremst

Als die Studiengebühr eingeführt wurde, wollte Siegfried nicht gegen die zusätzlichen Kosten klagen und beendete sein Jurastudium nach drei Semestern. Die damalige politische Argumentation für die Studiengebühr entrüstet ihn heute noch, da behauptet wurde, dass Menschen im Alter nicht mehr aus wirtschaftlichen Gründen studieren, aber er unter anderem genau deswegen das Studium angestrebt hatte. Nach dem abgebrochenen Studium waren ihm die satirischen Texte dann auch zu heikel und das freiberufliche Arbeiten schien zu unrealistisch. Siegfrieds Wunsch, seine Leidenschaft für das Rechtliche bei einer Tätigkeit schöpferisch zu verwirklichen, blieb somit unerfüllt. Seine Begeisterung, die in der Schulzeit zu DDR-Zeiten begann, konnte er schon im ersten Studium nicht nachgehen, da er Ökonomie studiert hatte und dann in der Wirtschaft bis zur Rente arbeitete. Sein Interesse für das Gesetz blieb währenddessen dennoch erhalten und so kam es, dass er als juristischer Laie noch kurz vor dem Ende der DDR in Diskussion auf die Änderung eines Wahlgesetzes hinwirken konnte. Es ist also eine gewisse tragische Wendung daran zu erkennen, dass seine Leidenschaft für das Rechtliche von einem Gesetz ausgebremst wurde.

Ein Studium ist gut für jung und alt

Dennoch möchte Siegfried die Zeit an der FSU nicht missen. „Das Verblüffende war für mich, vom ersten Tag an sog mein Gehirn alles auf wie ein Schwamm“, sagt er rückblickend. Im Hörsaal saß er immer in der Mitte der fünften Reihe und schrieb fleißig mit. Insgesamt fühlte sich Siegfried aber in seiner Studienzeit agiler. Doch manchmal hatte er einen Sekundenschlaf während den Vorlesungen und mit den Prüfungen und Hausarbeiten hatte er seine Schwierigkeiten, da ihm die „juristische Denke“ gefehlt habe. Wenn er an seine ehemaligen Kommiliton:innen denkt, meint er: „Obwohl ich so ein Oller bin, hatten sie kein Problem mit mir und ich mit ihnen nicht.“ Nur folgerichtig war es für ihn, sich in einer Vorlesungspause vor den Studierenden im Hörsaal zu verabschieden. „Viele haben nur mitbekommen, dass da so ein Oller vorne saß und eifrig mitgemacht hatte und plötzlich – oh, der wollte ja richtig studieren“; kommentiert Siegfried schmunzelnd die Reaktionen auf seinem Abschied.
Im Allgemeinen findet er, dass auch Senior:innen unabhängig ihrer finanziellen Situation die Möglichkeiten zum Studieren haben sollten, denn wer Leidenschaft für ein Fachgebiet hat, soll auch die gesammelte Lebenserfahrung und gewachsenen sozialen Beziehungen mit den jungen Menschen teilen. Einen großen Nutzen sieht er darin für die Studierenden, denn wenn sie die Unterstützung annehmen, müssten sie das Wissen weniger mühsam erarbeiten. Die meisten seien auf dem gleichen Wissensstand, meint Siegfried. „Außerdem lohnt es sich, die Gedanken der Älteren nicht verschwinden zu lassen“, sagt er und weist auch auf die zunehmende Abhängigkeit von digitalem Wissen hin, das aus seiner Sicht schneller verloren gehen kann.
Ähnlich positiv beschreibt der Diversitätsbeauftragte der FSU, Dr. David Green, wie er die sinnstiftende Wirkung von Weiterbildungsangeboten bei einem älteren Angehörigen im familiären Kreis erlebt hat. Jedoch würden durch die komplizierten Vorschriften und Gesetze Weiterbildungen faktisch als Stiefkind behandelt. Hier sieht er politischen Handlungsbedarf und rechtliche Änderungen als notwendig an. Zudem bemängelt er die beliebige Festlegung der Gebührenabgabe auf 60 Jahre und weist darauf hin, dass dies mit Hilfe des Diskriminierungsverbots im Gleichbehandlungsgesetz auf Bundesebene anfechtbar ist. Fühle sich eine Person wegen der Gebührenpflicht der Altersdiskriminierung ausgesetzt, könne sie sich somit ans Diversitätsbüro wenden. Dennoch konstatiert er, dass die Gebühren für ein Studium erhoben werden müssen, da für Hochschulen das Landesrecht bindend ist.
Ein Weiterbildungsangebot neben dem klassischen Studium stellt die Gasthörer:innenschaft dar. Hier belaufen sich die Gebühren auf bis zu 50 Euro pro Semester, es gibt keine notwendigen Voraussetzungen. Gasthörer:innen und eingeschriebene Studierende jeden Alters begegnen sich somit bei denselben Veranstaltungen. Nach Informationen des Studierenden-Service-Zentrum brach an der FSU die Anzahl der älteren Gasthörer:innen um 80 Prozent im ersten digitalen Semester ein. Mittlerweile hat sich die Anzahl bei um die 40 älteren Gasthörer:innen in den letzten zwei Semester stabilisiert, was nur knapp 30 Prozent der Teilnehmer:innen sind, die vor der Pandemie als Gasthörende eingeschrieben waren. Es zeigt sich also, dass nach der Digitalisierung der Lehre weniger Senior:innen in den Veranstaltungen präsent sind und die Vielfalt unter den Studierenden bei digitalen Veranstaltungen noch niedriger ist als vor der Pandemie.

Politische Mehrheit für gebührenfreies Studieren fehlt

Unabhängig vom erschwerten Zugang durch die digitale Lehre bleiben die Studiengebühren für ältere Studierende und Gasthörer:innen bestehen. Green schreibt, dass sich diesbezüglich der Jenaer Studierendenrat schon 2016 für die Abschaffung aller Studiengebühren ausgesprochen habe. Solle es ein besseres Weiterbildungsangebot alte Menschen an der FSU geben, sieht er die Hochschule in der Verantwortung, da mit Marktforschung sich durchaus die Bedarfe von Senior:innen genauer bestimmen zu können. Gleichzeitig ermutigt er die Thüringer Bürger:innen, durch Mitarbeit in Parteien und zivilgesellschaftlichen Initiativen auf die Rahmenbedingen einzuwirken, denn nur wenn der rechtliche Rahmen es auch den Hochschulen zulässt, kann ein besseres Weiterbildungsangebote für ältere Menschen an den FSU geschaffen werden. Grundlegende Voraussetzung ist also eine Mehrheit in der Bevölkerung, die das Lernen im Alter und Vielfalt unter den Studierende einfordert.
Nach dem Interview verlässt Siegfried den Campus. Er erzählte auch, dass er während des Studiums häufiger hier war als daheim. Wie wäre das Miteinander auf dem Campus, wenn häufiger Senior:innen erzählen könnten, sie seien mehr im Hörsaal, in der Mensa und Bibliothek gewesen als daheim und von welchen Erfahrungen berichten dann die jüngeren Studierenden?

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