Das Geschlecht sitzt zwischen den Ohren

Quinn studiert an der FSU Biochemie und fühlt sich zu keiner Geschlechtskategorie zugehörig. Wie wirkt sich gendergerechte Sprache auf diese Situation aus?

Von Greta Schlusche und Sophia Hümmer

Quinn weiß, dass sier* nicht reinpasst. Und das eigentlich schon immer. Weder die Schublade weiblich, noch heterosexuell wollte so richtig passen, genauso wenig lesbisch oder männlich. Doch welche Schublade soll es stattdessen sein? Die Vorbilder fehlen, denn vor wenigen Jahren waren bei weitem noch nicht so viele Menschen geoutet wie heute. Es hat sich in wenig Zeit viel getan. Elliot Page und Sam Smith nennt sier als Beispiele. Menschen, die weder das eine noch das andere sind, weder männlich noch weiblich, sondern irgendetwas „daneben, dazwischen, außerhalb.“ ‚Wo soll das denn bitte sein?‘, würden da viele fragen. Es gibt kein Außerhalb von er und sie, von Mann und Frau, von ihm und ihr. Zumindest vermittelt das die deutsche Sprache. Und wie allgemein bekannt, ist Sprache ein Ausdruck von gesellschaftlichem Konsens und gesellschaftlicher Konsens nicht immer ganz deckungsgleich mit der Realität.

Kein Teil des binären Systems

Was feststeht, ist, dass es Quinn gibt und Quinn ist kein Teil des binären Geschlechtersystems, was bedeutet, dass Quinn keine der Pronomen so richtig passen. Deswegen nutzt sier einfach beide, keine oder das Neopronomen Sier. Doch was sich in der Theorie erstmal gar nicht so schlecht anhört, stößt oft auch an seine Grenzen. Wer darauf achtet, bemerkt schnell, dass nicht bei jeder Online-Bestellung auch divers ausgewählt werden kann, ähnlich muss man sich beim Blutspenden in eine der binären Kategorien einordnen, geschweige denn auf Toiletten oder in der Umkleide.

Ob das den Jnensern passt? Foto: Sophia Hümmer


Außerdem ist der Umgang mit nicht binären Personen für viele noch neu. In der deutschen Sprache verfügen wir über kein Schema, das wir aktivieren können, sobald wir mit oder über eine nicht binäre Person sprechen. Vor genau dieser Herausforderung sehen wir – die Autorinnen – uns, bevor wir Quinn zum Interview treffen. Quinn ist achtzehn Jahre alt und studiert im ersten Semester Biochemie an der FSU Jena. Quinns Telegram-Konto nennt einen ganz klar weiblich konnotierten Namen, was bei uns die Frage aufwirft, ob sier noch den Geburtsnamen trägt. Später erzählt Quinn, dass dieser bei sier Dysphorie auslöst, worunter man sich einen psychischen und körperlichen Schmerz bei falscher Zuordnung zu einem Geschlecht vorstellen kann. „Es tut verdammt weh, aber vor allem im Kopf. Meine Gedanken schreien dann ganz laut: Neeein! Manchmal ist es auch körperlich. Im Sinne von: Mir wird kalt oder extrem warm, ich fühle mich unwohl oder bekomme Bauchschmerzen.” Ähnlich problematisch sind hierbei die binären deutschen Pronomen. Im Gegensatz zu Schweden, welches 2015 das neutrale Pronomen „hen“ einführte, setzten sich bislang in Deutschland keine Neopronomen durch.
Ein Dauerbrenner ist das Thema gendergerechte Sprache, welche Quinn zufolge ein essentieller Bestandteil dafür ist, dass sich alle Menschen eingeschlossen fühlen. Für sier ist es ein Unterschied, ob in einer Stellenausschreibung nach ‚Kollegen und Kolleginnen‘ oder ‚Kolleg:innen‘ gesucht wird: „Wenn ich weiß, ich werde woanders vermutlich auch aufgenommen, dann würde ich mich eher da bewerben, wo gegendert wird. Das ist ganz eindeutig. Einfach, weil ich mich dann von der einen Stellenausschreibung angesprochen fühle, von der anderen nicht.“ Um solche Situationen zu vermeiden, gibt es erste Gesetze seitens der Politik, so zum Beispiel die Pflicht zur Nennung aller Geschlechter. Für Quinn sind das zwar kleine, aber wichtige Schritte, welche zunehmend in allen Teilbereichen der Gesellschaft zu beobachten sind.

„Wenn die Sprache fehlt für etwas, dann kann man nicht beschreiben, wie man sich fühlt oder wer man ist.”

Quinn, 18

Immer noch führen viele selbstverständliche Alltagspraxen zum Ausschluss von Menschen. So bringe beispielsweise der Zwang, bei der Prüfungsanmeldung seinen Geburtsnamen anzugeben, Quinn regelmäßig in die Situation, ob sier nun will oder nicht, sich selbst outen zu müssen. Um sich über derartige Probleme auszutauschen, ist es für Quinn wichtig, Menschen zu finden, die sier Erfahrungen teilen. Bisher engagiert sich Quinn in einer ihr zufolge ziemlich progressiven christlichen Jugendgruppe. Progressiv deshalb, weil ihre Mitglieder schon seit einigen Jahren gendern und seit kurzem beschlossen haben, dass auch nicht binäre Menschen in ein Amt gewählt werden können. „Falls ich es schaffe, bis zur nächsten großen Konferenz mit meinem Papa zu reden, werde ich da von meinem weiblichen Amt zurücktreten und als divers antreten.“ Eine hilfreiche Entwicklung für viele nicht binäre Menschen ist die fortschreitende Repräsentation in sozialen Medien. Quinn sieht darin die Chance, dass mehr Menschen einen „Begriff für sich selbst finden” und damit „Leute wissen, wer sie sind.”
Quinns Suche nach einem passenden Selbstverständnis ist geprägt von vielen Umwegen. Selbst als sier den Begriff nicht binär für sich entdeckte, dauerte es noch ein weiteres Jahr, bis sier ihn für sich akzeptieren konnte. Dass das eigene biologische Geschlecht eine Ursache für Unwohlsein oder schmerzhafte Abneigung darstellt, ist für viele, die sich mit ihrem anatomischen Geschlecht identifizieren, keine völlig nachvollziehbare Erfahrung.

Gesellschaft noch nicht bereit

Radikale Maßnahmen, wie beispielsweise das Grundgesetz zu gendern, wie es die feministische Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch fordert, sieht Quinn skeptisch: „Einfach, weil die Gesellschaft dafür noch nicht weit genug ist.“ Für Quinn wäre es ein erster Ansatz, Parteiprogramme zu gendern. „Das wäre wirklich super”, sagt sier hoffnungsvoll. „Wenn ich in einem Programm lese ‘Liebe Parteifreunde und Parteifreundinnen’, dann sitz ich da so” – dabei setzt sier einen resignierten Gesichtsausdruck auf und lässt die Schultern hängen. „Ok, nächste Partei, die ist schon mal raus.” Auf unsere Aussage hin „Vielleicht kommen wir irgendwann dahin“ antwortet sier schlicht: „Das wäre schön. Würde ich mich wohl mit fühlen.“

*Sier ist ein mögliches Neopronomen für Menschen, die sich weder von sie noch er angesprochen fühlen.

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