“Die Leute werden vergessen, dass es das palästinensische Volk gegeben hat”

Die Corona-Pandemie beeinflusst die ganze Welt. Doch Menschen in Palästina müssen nicht nur mit der Pandemie umgehen, sondern auch mit den sonstigen Problemen. Eine Studentin hat uns von ihrem Leben in Palästina berichtet

Interview von Michel Braun

Sabrin al-Hajj Ahmed studiert im Master interkulturelle Kommunikation an der Arab American University in Ramallah in der Westbank. Sie stammt aus Jenin [Westjordanland] und ist Palästinenserin mit israelischer Staatsbürgerschaft.

Wie ist es, unter Corona in Palästina zu studieren? Wie gehen die palästinensischen Institutionen in deinen Augen mit der Situation um?

Wir hatten einen Lockdown und die wirtschaftliche Situation ist nicht die beste. Generell aber ist die Situation in Ordnung. Der Unterricht ist mittlerweile online. Die Schulen waren fast das ganze Jahr geschlossen, der Zustand der Bildung ist im Moment also sehr schlecht. Die Entscheidung zum Lockdown war sehr hart, denn viele Unternehmen mussten schließen und es gab keine finanzielle Unterstützung für sie.

Wie ist die Infrastruktur in Palästina?

Das Internet in Palästina ist meiner Meinung nach ok, aber die Bildungseinrichtungen sind nicht dafür ausgerüstet, online zu unterrichten. Sie haben keinen Plan. Sie haben viel Zeit gebraucht und brauchen noch immer zu lange, um Unterricht online zu ermöglichen.

Wie beeinflusst die Besatzung dein Leben?

Es gibt viele Einschränkungen wie Checkpoints, Festnahmen und Studierende, die ins Gefängnis geworfen werden. Das Reisen zwischen den Städten ist schwer, manchmal sogar der Weg zur Universität. Es beeinträchtigt alles, du kannst es dir nicht vorstellen. Ich habe einen israelischen Pass, weil meine Mutter aus Sakhnin in der Nähe von Haifa ist. Ich habe also vermeintliche Privilegien. Ich kann die Checkpoints passieren, aber es ist unmenschlich und unangenehm. Palästinenser mit palästinensischem Pass können nicht nach Jerusalem und Haifa, ich schon. Es ist schwer für die Studenten, sich mit dem Rest der Welt zu verbinden.

Wie ist der Umgang an den Checkpoints?

Sabrin: In der Regel sind die Soldaten ein wenig aggressiv, besonders dann, wenn viel los ist. Ich persönlich hatte bisher noch nie größere Probleme, aber an den Checkpoints werden viele Menschen getötet. Die Soldaten nehmen dort jede Bewegung als Bedrohung war.

Wie siehst du die Zukunft des Konflikts in der Region? Glaubst du an eine Zwei- oder Ein-Staaten-Lösung?

Es geht nicht darum, ob man Jude ist oder nicht, sondern ob man Zionist ist. Das Problem ist die Idee des Zionismus. Das macht Demokratie hier so schwer. Weder der Ein- noch der Zwei-Staaten-Plan ist eine Lösung. Beide sind nicht fair oder menschlich. Ich glaube nicht, dass es eine Lösung geben wird. Es wird vermutlich mehr Einschränkungen für Palästinenser geben und die Lage für uns wird schwieriger. Israel wird alle Ressourcen und das ganze Land nehmen, so dass wir Palästinenser eine Minderheit werden, wie die amerikanischen Ureinwohner. Langsam werden die Leute vergessen, dass es so etwas wie ein palästinensisches Volk hier gegeben hat. Das ist, was ich für die Zukunft erwarte, obwohl viele Palästinenser versuchen, dagegen zu kämpfen und in Kulturzentren an unsere Kultur, unsere Existenz und unser Recht auf dieses Land zu erinnern. Aber es gibt größere Länder, die hier entscheiden.

Zionismus ist die gegen Ende des 19 Jh. in Europa entstandene Idee, einen selbstständigen Nationalstaat für Jüdinnen und Juden in Palästina zu schaffen. Nicht alle Jüdinnen und Juden unterstützen die Idee des Zionismus.

Glaubst du, dass es in den letzten Monaten unter Corona positive Entwicklungen gegeben hat?

Mit Blick auf die Wirtschaft, die Bildung und auch die Umwelt ist alles zerstört worden. Anstatt dass sich die Menschen um ihre Umgebung kümmern, konsumieren sie diese nur noch. Sie haben keine Ruhe mehr, um nachzudenken, wie sie ihr Leben verbessern können. Die Leute haben die letzten 13 Jahre versucht, über die Runden zu kommen und einen Job zu finden. Die Frage ist jetzt, ob sie mit Corona einen Job finden können. Sie stehen unter Druck und haben keinen Freiraum mehr, um über irgendetwas anderes nachzudenken.

Was sollten Studierende hier in DE deiner Meinung nach über Palästina wissen?

Bildet euch eure eigene Meinung. Hört nicht nur auf eine Seite, weder die palästinensische noch die israelische. Recherchiert die Quellen über die Geschichte und sogar über die Religionen. Es ist viel Arbeit, aber es lohnt sich.

Eine Antwort auf “Die Leute werden vergessen, dass es das palästinensische Volk gegeben hat”

  • Ich finde das Interview sehr gelungen. Selten lese ich Interviews oder Berichte über die Schüler:Innen und Studierende in dem palästinensischen Gebiet. Es zeigt sehr gelungen die realistische Situation in dem besetzen Areal. Besonders interessant finde ich die Einschränkung in der Bewegungsfreiheit, besonders für Menschen ohne israelischem Pass. Für Studierende ist diese Einschränkung natürlich besonders schwer, vor allem da die Verbindung zu anderen Studierenden, auch außerhalb der eigenen Universität, sehr wichtig ist. Auch der Fakt, dass “viele Menschen an den Checkpoints getötet werden” bewegt einen sehr. Es wird einem gut vor Augen geführt, dass dies genauso jeden Studierenden wie generell schon jeden Jugendlichen und jedes Kind betrifft. Alle weiteren Aspekte bezogen auf Corona, waren sehr interessant zu lesen.

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