Ein Traum auf UKW

In dieser Serie widmen wir den vermeintlichen und echten Meisterwerken
unsere Liebeserklärungen und Hasstiraden. Diesmal: Radio.

Von Isabell Hottinger

Aus verträumter Müdigkeit weckst du mich jeden Morgen sanft. Du bist mein liebstes Stück Vergangenheit, mein Radiowecker, du fröhliche Trophäe aus einer noch Smartphone-freien Zeit. Behutsam gewöhnst du mich zwischen surrenden Sinfonien und kryptischem Rauschen langsam ans Sonnenlicht. Gemeinsam mit dir kann ich die schläfrige Orientierungslosigkeit im Bett zurücklassen, während du mir hilfst, mich aus meinem kuscheligen Kissenmeer zu erheben. Deine Melodien laden mich in den Tag ein, holen mich ab und geben mir die Kraft, den morgendlichen Kaffee zu kochen. Schon in der Dusche singe ich mit dir und wir summen zusammen über das Haarföhn-Dröhnen hinweg. Du bestimmst, ob meine Stimmung steigt. Treu begleitest du mich barfuß durchs Bad, am Kleiderschrank vorbei bis zum Frühstückstisch. Die Wettervorhersage hilft mir, mich warm einzupacken – wetterfest und wasserdicht erinnerst du mich, den Regenschirm mitzunehmen. Ich vertraue dir.
Mein Informationsstand zum Tagesstart basiert auf deinen Nachrichten. Alles Wichtige weiß ich von dir – kurz gefasst und klar gesagt. Deine Moderation motiviert mich und schlaftrunken übernehme ich das Schmunzeln deiner Stimmen blind.  Zwischen Werbespots und Wochenendtipps weiß ich deine Ablenkung zu schätzen. Auch über die Kopfhörer bist du als Internetradio immer bei mir. Meine Füße folgen deinem Rhythmus auf dem beschwerlichen Arbeitsweg. Das traurige Trödeln der Tram fühlt sich mit dir im Ohr weniger monoton an. Wir blenden die Hintergrundgeräusche aus und meistern gemeinsam den Alltag. Du sprichst meine Sprache, kennst dich lokal aus und weißt, was mir gut tut. Deine O-Töne organisieren meine Gedanken aus dem Off.
Als klassisches Nebenbei-Medium rieselst du um mich rum und lässt mich nicht in Stille allein. Altbewährt, seit Jahren etabliert wirst du beim Autofahren geschätzt und geliebt. Immer wieder überraschst du uns mit neuen Lieblingsliedern, ohne dabei unsere alten Musikwünsche zu vergessen. Du triffst unseren Geschmack und veränderst ihn durch das ständige Spielen verhasster Ohrwürmer. Jahrzehnte begleitest du Generationen durch den Tag, um nun im Bedeutungszenit digitaler Welten langsam nur noch einen kleineren Kreis des treuen Publikums zu erreichen. Doch deine Jingles gehen ins Ohr und du gehst mir nicht aus dem Kopf.

Schreibe einen Kommentar

*