JENA DENKT QUER

Die neue Bewegung gegen die Anti-Corona-Maßnahmen ist ein komplexes Phänomen. Ein Politologe, ein Soziologe und ein Psychologe wagen eine Einschätzung.

Interviews von Leonard Fischer

Professor Dr. Franz J. Neyer ist Direktor des Psychologieinstituts an der FSU Jena und leitet den Lehrstuhl für Persönlichkeitspsychologie und psychologische Diagnostik.

Foto: Uni Jena

Welche Persönlichkeitsmerkmale oder Prädispositionen begünstigen die Aktivität in der Querdenken-Bewegung?

Journalisten erwarten auf solchen Fragen typischerweise als Antwort, dass sich Mitglieder der fraglichen Gruppe durch ein sozial unerwünschtes Persönlichkeitsprofil auszeichnen. Mir sind in diesem Fall aber keine belastbaren Daten bekannt. Deswegen gehe ich von der Nullhypothese aus: Es gibt keine systematischen Persönlichkeitsunterschiede zwischen Mitgliedern der Anti-Corona-Bewegung und Anderen!

Welche Charakteristika besitzen diese Gruppen respektive deren Teilnehmer?

Allgemein wird vermutet, dass Mitglieder der Anti-Corona-Bewegung sehr unterschiedlich sind. Ich erwarte deshalb, dass die Persönlichkeitsunterschiede zwischen Mitgliedern der Anti-Corona-Bewegung und Mitgliedern anderer gesellschaftlicher Gruppen weniger bedeutsam sind als die Unterschiede innerhalb der Anti-Corona-Bewegung.

Wie ist es zu erklären, dass Menschen die Existenz des Corona-Virus leugnen oder an eine globale Verschwörung glauben?

Menschen tendieren generell dazu, Komplexitäten zu reduzieren und einfache Botschaften zu verarbeiten. Manche tun das wieder mehr als andere. Prinzipiell gilt das jedoch auch für solche mit einem naiven Glauben an die Wissenschaft.

Wie könnte man erreichen, dass diese Menschen „die Realität“ anerkennen und „der Wissenschaft“ wieder Glauben schenken?

Schwer zu sagen. Aber Psychotherapie würde ich nicht gerade empfehlen.

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Dr. Jörg Hebenstreit ist Post-Doc am Lehrstuhl für das Politische System der BRD am Institut für Politikwissenschaft an der FSU Jena.

Foto: Uni Jena

Wo ist die „Querdenken“-Bewegung im politischen Spektrum zu verorten?

Die Bewegung ist sehr heterogen. Es finden sich Anhänger praktisch aller politischen Lager – Linke, Liberale, Konservative, die bürgerlichen Mitte. Beunruhigend: Auch bei der Systemfrage gibt es sowohl Unterstützer einer offenen Gesellschaft, aber auch deren Feinde wie Reichsbürger, Rechtsextreme und Identitäre.

Inwiefern ist ihr politischer Protest gut für die Demokratie?

Opposition und damit auch Protest sind Grundkategorien demokratischer Politik. Dass Protest überhaupt möglich ist, ist also zunächst ein gutes Zeichen. Er muss jedoch bei den Fakten bleiben, um einen sachorientierten und rationalen zivilgesellschaftlichen Diskurs zu ermöglichen. Ganz wichtig: Proteste müssen gewaltfrei sein. Gewalt gegen Polizisten, Politiker und Journalisten bedroht den gesellschaftlichen Grundkonsens der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Wie hat die Corona-Pandemie die Politik in Deutschland verändert?

Krisenzeiten sind seit jeher die Stunde der Exekutive. Die Bundesregierung tritt noch mehr in den Vordergrund, die Opposition wird weniger wahrgenommen. Insbe­sondere zu Beginn der Pandemie hat der Bundestag eher in seiner Funktion als Arbeits- denn als Redeparlament fungiert. Schließlich ist der Stel­lenwert von Experten und Wissenschaft für die Regierung zu betonen. Institutionell werden durch das Robert Koch-Institut (RKI) sowie die WHO zudem Konturen technokratischen Regierens erkennbar.

Leben wir in einer Diktatur?

Allein der Umstand, dass man den Diktaturvorwurf äußern kann, ist Ausdruck dessen, dass man eben nicht in einer solchen lebt. Zudem unterstützen laut Umfragen 70-80 Prozent der Bundesbürger die aktuellen Maßnahmen. Die Demokratie ist also keinesfalls abgeschafft.

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Dr. Axel Salheiser ist Soziologe und wissenschaftlicher Referent am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) Jena.

Wer engagiert sich in der Querdenken-Bewegung?

Befragungen zeigen: Die Protestierenden sind unter AfD-Wähler_innen häufiger zu finden als unter Wähler_innen anderer Parteien. Rechtsextreme sind dort geduldet oder sogar ausdrücklich willkommen. Die AfD solidarisiert sich ja auch mit den Protesten und versucht, aus der Krise politisches Kapital zu schlagen. Bisher erfolglos, wie die Wahlumfragen zeigen.

Ab wann wird politischer Protest destruktiv?

Wenn er sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richtet, ein Umsturz gefordert wird. Bei einigen Demos appellierten Redner an Polizei und Bundeswehr, sich auf die „Seite des Volkes“ gegen die Regierung zu stellen: der Aufruf zum Militärputsch!

Aber doch nicht alle Demonstrant sind politisch extrem?

Wer mit Rechtsextremen und „Reichsbürgern“ zusammen auf die Straße geht und sie auf den Demos duldet, der normalisiert sie. Egal, wie laut von Frieden, Liebe, Kinderschutz geredet und gesungen wird – da laufen Neonazis mit, die gegen das „System“ kämpfen und nur auf den „Tag X“ warten, an dem sie losschlagen können.

Leben wir in einer Diktatur?

Die Demokratie als Diktatur zu bezeichnen, ist eine Finte, um die Regierung zu diskreditieren und Menschen aufzuwiegeln. Neonazis und „Reichsbürger“ bezeichnen die BRD schon lange als Diktatur. Sie werden ja auch tatsächlich von ihr unterdrückt, allerdings völlig zu Recht. Wenn Rechte heute von ihrer idealen „Demokratie“ reden, haben sie vor allem den angeblichen Kollektivwillen eines ethnisch homogenen „Volkskörpers“ vor Augen.

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