AUSLÄNDER REIN

Unser Autor berichtet von seinem Auslandssemester in Tschechien.

Von Mathis Brinkmann

Schön und sorgenfrei muss es gewesen sein Anfang Juli dieses Jahres in Prag. Damals kamen die Pragerinnen und Prager an einer 500 Meter langen weiß gedeckten Tafel auf der Karlsbrücke zusammen, um mit einem gemeinsamen Picknick das Ende des Corona-Lockdowns zu feiern. Rund ein halbes Jahr später trifft man an derselben Stelle auf ein gänzlich anderes Szenario: Dort, wo sich an einem Herbstwochenende normalerweise Massen von Menschen tummeln würden, schlendern nur vereinzelt Pärchen über das Kopfsteinpflaster, gesäumt von sandsteinernen Königen und Heiligen, die fragend auf die wenigen Passanten herabschauen.


Endlich kann man ungestört Touri-Bilder, ohne diese ganzen Touris. So wie Akrützel-Autor Mathis. Foto: Mathis Brinkmann

Ein paar unbeugsame Erasmus-Studierende haben sich dennoch in die Goldene Stadt verirrt. Auch wenn Uni-Alltag genauso vor dem Computer hocken bedeutet wie überall sonst. Dafür kann man nach dem Seminar noch einen kleinen Spaziergang entlang der Moldau machen, da kann die Saale nicht mithalten. Inzwischen jedoch sind viele Austausch-Studis heimgekehrt – oder heimgekehrt worden, nachdem sie sich zu illegalen Wohnheimpartys getroffen haben. Wer dennoch hiergeblieben ist, erlebt zwar nicht das Party-Semester seines Lebens, nimmt dafür aber andere Eindrücke auf. Städte wie Prag werden auf absehbare Zeit wohl nie wieder so leer sein wie jetzt gerade. Und so kommt es, dass man die einstigen Tourismus-Spektakel nun ganz allein bestaunen kann. So manchen Ort sieht man dann allerdings in anderem Licht: Steht man als Einziger zur Mittagszeit vor der Astrologischen Uhr, kommen Zweifel am Wert der Attraktion auf. Ein paar sich um sich selbst drehende Holzfiguren – so was Ähnliches bekommt man auch auf Jenas Marktplatz. Das eigentliche Spektakel ist wohl die Masse an Menschen, die üblicherweise zusammenkommt, um dem Geschehen beizuwohnen.

Langsam beginnen die Infektionszahlen hier zu sinken – denn die Tschechinnen mussten früher härter durchgreifen. Nach dem entspannten Picknick-Sommer stand das Land plötzlich an der Spitze der Neuinfektionen in Europa. Zeitweise steckten sich mehr Menschen pro Tag an als in Deutschland, und das bei nur knapp 11 Millionen Einwohnern. Jetzt gilt: Treffen nur noch zu zweit und Sperrstunde ab 21 Uhr. Gerade letzteres ruft schon ein mulmiges Gefühl hervor, und erinnert irgendwie an Opas Erzählungen. Und erst wenn man es nicht mehr darf, möchte man plötzlich lauter Abendspaziergänge machen.

Doch auch in jedem Ausnahmezustand findet sich etwas Gutes: Pragerinnen mit dauerhaftem Wohnsitz beginnen, ihre Stadt zurückzuerobern – und wenn es nur ein kleines Stück Gras ist: Vor dem Tanzenden Haus, einem schiefen Glasbau am Ufer der Moldau, posieren Touristen üblicherweise für ein Foto, auf dem es so aussieht, als würden sie gegen das Haus treten und es so zum Tanzen bringen. Die Pose in Pisa-Manier ist nicht nur unglaublich originell, sondern hat auch die Grünfläche vor dem Gebäude unter lauter Fotografen-Füßen verschwinden lassen. Nachdem sich ein paar junge Menschen ein Herz genommen und die graue Fläche umgegraben haben, sprießt dort nun wieder Gras – vorerst zumindest. Denn irgendwann werden auch die Touristen zurückkommen. Mal schauen, ob’s dann dafür auch ein Karlsbrücken-Picknick gibt.

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