Schwein gehabt

In dieser Serie widmen wir den vermeintlichen und echten Meisterwerken
unsere Liebeserklärungen und Hasstiraden. Diesmal: Das Akrützel.

von Luise Vetter

Druckerschwärze, umweltzertifiziertes Recyclingpapier und zu viel Schlagschatten. Das Akrützel ist wie die erste Liebe in der neuen Stadt: ein Kind der Neunziger, das Aushängeschild von Autonomie und Hedonismus, nie mehr als ein paar Euro in den Taschen, mit Jutebeutel und Kaffee ausgestattet, sozial vernetzt und up-to-date, bevorzugt aber den analogen Konsum von Medien. Deshalb gibt es das Magazin auch an jeder Straßenecke kostenlos zum Mitnehmen. Liberal und pseudo-intellektuell hat das Akrützel zu allem und jedem eine Meinung, einen Artikel und einen Instagrampost parat, bevor der Otto-Normal-Studierende überhaupt davon weiß.
Das Akrützel ist wie die erste Liebe in der neuen Stadt: ein Partner für die nächsten sechs Semester, plus-minus, Regelstudienzeit oder eine kurze Affäre, die sich nichts mehr zu sagen hat und für die nächsten Jahre zwanghaft den Blickkontakt meidet, nur um später mit etwas jugendlicher Sehnsucht voneinander zu erzählen. Wie es auch sei, man kommt nicht dran vorbei. Wenn es nicht die Vielseitigkeit der Schweineillustrationen, die farbenfrohen Balken oder die mehr-schlecht-als-rechten Wortspiele auf der Titelseite sind, die einen immer wieder um den Finger wickeln, dann gilt es immer noch zu sagen: Es sind die inneren Werte, die zählen. Und davon gibt es langsam ziemlich viele. Mehr als zwanzig Seiten journalistische Prunkstücke, überladene Collagen in schwarz-weiß und mehr Selbstvertrauen in die Satire, als es dem Stura lieb ist. Wer aber hinter die Fassade schaut, wird erkennen, dass das Akrützel mehr ist als der Wolf im Schweinekostüm. Eingenistet auf Drei-Zimmer-Küche-Bad, erstes Obergeschoss, wunderschöner Altbau, in unmittelbarer
Uninähe, finden sich ein paar Dutzend Redakteurinnen und

Redakteure, Illustratorinnen und Illustratoren, Fotografinnen und Fotografen und andere Menschen zusammen, die nichts besseres mit ihren Gedanken oder ihrer Zeit am Montagabend anzufangen wissen. Schulter an Schulter sitzen sie an einer Tafel, wie in einer diverseren, säkularisierten Nachahmung Leonardo da Vincis Abendmahls (es sei denn, eine weltweite Pandemie hält sie davon ab, dann steigen sie auch auf virtuelle Rendezvous um). Serviert werden Filterkaffee und Süßigkeiten, Wein und Brot neben dem Duden in zwölf Bänden und Zeitschriften aus den Nischenredaktionen der Nation. Zwischen braunem mid-century Sofa und kalkweißem Büromobiliar schmücken 399 Titelseiten die gelben Wände und erinnern an die jungen Jahre der Redaktion. Was sich bis dreißig hält, wird sich bekanntlich ewig halten. Beim Namen und Schwein ist sich das Akrützel treu geblieben, wobei deren Hintergrund ein gut gehütetes Geheimnis bleibt. Aber auch in Selbstverständnis und -darstellung baut man auf den alten Vorstellungen auf; ironisch, individuell und informativ, jetzt auch digital, gegendert und formell. 
Das Akrützel ist wie die erste Liebe in der neuen Stadt: Zwischen Retrocharme und digitalem Zeitalter hat sie es sich in der Postmoderne gemütlich gemacht und kämpft mit Selbstreflexivität und Metareferenzen gegen die ständig im Nacken sitzende Angst vor ihrem eigenen Tod an. Doch auch wenn es hart auf hart kommt, wenn Künstliche Intelligenzen die individuellen Köpfe in der Redaktion ersetzen, die Zeitschriftenständer Jenas leer bleiben und das Akrützel nur noch eine App auf dem Bildschirm eines Smartphones ist, oder das Heft wieder für 50 Pfennig vor der Mensa verkauft wird, auf vier Seiten in monotonem Grau, dann hat es immer noch Schwein gehabt.

Schreibe einen Kommentar

*