Nach der Wahl Thomas Kemmerichs zum Thüringer Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD widersprach der Jenaer Politikwissenschaftler Torsten Oppelland in einem Zeitungsinterview der Deutung der Wahl als demokratischen Sündenfall und schlug stattdessen die Kooperation von CDU und SPD mit Kemmerich vor. Dies sorgte in Teilen der Studentenschaft und der Lokalpolitik für Aufsehen. Wir sprachen mit dem Politikwissenschaftler über die Kritik von Studenten und Kollegen, Wertepluralismus an Universitäten und ostdeutsche Besonderheiten.
Gefragt hat Tim Große
Wie bewerten Sie Ihre Äußerungen zur Wahl Kemmerichs als keinen demokratischen Sündenfall mit einiger Zeit Abstand?
Inzwischen hat sogar Bodo Ramelow im MDR-Interview gesagt, dass er vom Verhalten der AfD überrascht worden sei und das gilt für die meisten Abgeordneten im Landtag. Auch wenn sie vorher die hypothetische Möglichkeit durchgespielt haben, so haben sie in ihrer Mehrheit nicht damit gerechnet. Insofern war meine Prämisse nicht ganz falsch. Nur habe ich die hochemotionale Reaktion über die Wahl Kemmerichs unterschätzt und insofern war meine Analyse falsch. Auf der anderen Seite habe ich auch nicht nur negative Reaktionen bekommen. Die einen sagen „Ganz normaler demokratischer Vorgang, warum diese Aufregung?“ und die anderen sagen „Sündenfall“. Diese Polarisierung gibt es ja. Das Interview sollte ein bisschen dazu dienen, die Emotionalisierung raus zunehmen. Aber das war zu früh und analytisch zu kurz gesprungen.
Wie kam das Gespräch zustande?
Ich war in einer Gremiensitzung und hatte ungefähr 30 Whatsapps, ich solle bitte den Redakteur zurückrufen, was ich dann auch höflicherweise getan habe – und nicht hätte tun sollen. Ich war auf dem Stand von 14:00 Uhr, das war zu sehr aus der Hüfte geschossen. Zu dem Zeitpunkt ging ich davon aus, dass es keine Absprachen zwischen FDP und CDU auf der einen und der AfD auf der anderen Seite gegeben hat. Mir schien, die AfD habe die anderen beiden Fraktionen ausgetrickst. Dass sie ihrem eigenen Kandidaten keine einzige Stimme geben würde, war kaum zu erwarten gewesen. Daher wollte ich dazu raten, darüber nachzudenken, wie man den eigentlichen Sündenfall, nämlich einen direkten Zugang der AfD zur Regierungsmacht, verhindern könne.
Durch eine Zusammenarbeit von Kemmerich mit SPD und Grüne?
Es war aus meiner Sicht naheliegend, daran zu denken, dass nicht nur die CDU, sondern auch SPD und Grüne mit einem gewählten Ministerpräsidenten Kemmerich kooperieren müssten, um diesen nicht in eine echte Abhängigkeit von der AfD geraten zu lassen. Dass bereits vor der MP-Wahl der SPD-Vorsitzende Tiefensee eine Kooperation mit Kemmerich abgelehnt hatte, war mir zu dem Zeitpunkt nicht bekannt gewesen.
Sind Sie als Politikwissenschaftler also der falsche Ansprechpartner für tagessaktuelle Ereignisse?
Die Medien wollen ja eine Einordnung – und das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht leisten, das war der Fehler. Politikwissenschaft soll den Überblick über langfristige Trends in der Wählerentwicklung, in der Parteienidentifikation und so weiter geben, die einem helfen, tagespolitische Vorgänge einzuordnen. Aber in dem Fall hat das nicht so richtig viel geholfen.
Bei einer Versammlung unter dem Titel „Nach dem Tabubruch: Wie weiter in Thüringen?“ versuchten Sie, Ihre Aussagen zu erklären, was nach Zeitungsberichten von einigen Pfiffen begleitet wurde. Wie war dabei Ihre Gefühlslage?
Ich fand es nicht besonders schlimm, dass da politische Meinungen aufeinandertrafen, die nicht übereinstimmten und dass man das auf etwas unkonventionelle Weise ausdrückte. Es war ja klar, dass ich nicht im Sinne dieses Aufrufs, den die Initiatoren zugrunde gelegt haben, sprechen würde. Insofern fand ich gut, dass ich überhaupt sprechen durfte. Der Antrag, „dem Kerl das Wort zu entziehen“, der war ein bisschen frech formuliert, aber das ist auch egal. Ich war ohnehin fertig, darum habe ich sofort das Mikrofon abgegeben.
Oberbürgermeister Thomas Nitzsche äußerte sich auf Facebook unter dem Motto „Hier entgleist etwas“ besorgt über das Verhalten von Versammlungsteilnehmern Ihnen gegenüber. Auch der RCDS sprach davon, wie Ihnen „in einer höchst undemokratischen Art das Wort abgeschnitten“ worden sei. Begrüßen Sie diese Stellungnahmen?
Nein, es tut mir im Gegenteil leid, dass das so breite Kreise gezogen hat. Weder der OB noch der RCDS waren bei der Vollversammlung dabei, sondern hatten nur den Artikel als Informationsgrundlage. Und da wurde es ja so dargestellt, als hätte ich überhaupt nicht reden können, was absolut nicht der Realität entsprach. Herr Nitzsche hätte mir vorher einfach mal schnell eine Whatsapp schicken und fragen sollen, wie das eigentlich wirklich war. Auch der RCDS war hinterher bei mir. Ich habe das denen nochmal erklärt. Auch da wäre es besser gewesen, sie hätten mir vorher wenigstens eine Mail geschrieben. Das sind halt die Versuchungen der sozialen Medien, da schießt man immer gleich los.
Wie wird bei Ihnen am Institut gestritten?
Hier wird über Tagespolitik mehr auf den Fluren diskutiert, aber nicht so emotional. Obwohl natürlich auch hier die Meinungen auseinandergehen. Ich habe beispielsweise von Michael Dreyer eine Mail bekommen, wo er sagte: „Habe dein Interview gelesen, bin aber völlig anderer Meinung“.
Als der AfD-Mitgründer Bernd Lucke an der Universität Hamburg wieder Vorlesungen hielt, bekam auch er es mit heftigem Gegenwind von Seiten der Studentenschaft zu tun. Ist das vergleichbar mit Ihnen?
Das ist nicht vergleichbar. Erstens konnte ich ja reden und zweitens kommt bei Lucke natürlich wieder die Emotionalisierung hinzu, dass er, anders als ich, tatsächlich AfD-Politiker war. Auch wenn er die Partei verlassen hat, weil er gerade nicht zum radikalen Flügel gehörte. Aber da wird dann auch nicht mehr differenziert. Da ist AfD gleich AfD.
Würden Sie sich als AfD-Versteher bezeichnen?
Nein, aber ich beschäftige mich als Parteienforscher natürlich auch mit dieser Partei. Ich selbst stehe, das ist ja kein Geheimnis, eher Mitte-Rechts. Aber ich habe weder mit der AfD etwas zu tun, noch bin ich Mitglied in sonst einer Partei.
In Talkshows nach den Thüringer Ereignissen wurde wieder deutlich, dass immer noch vor allem Westdeutsche über Thüringen und den Osten sprechen. Auch Institute an ostdeutschen Universitäten sind häufig überwiegend mit Westdeutschen besetzt. Kann das ein Problem in der Interpretation der Ereignisse sein und braucht es eine Ostquote an Instituten?
Ich glaube, das Letztere wird gewissermaßen auf biologischem Wege passieren, wenn die in der Wendezeit berufenen Professoren in den Ruhestand gehen. Aber es ist auch ein Wettbewerb um die offenen Stellen, wo der größere Markt von Absolventen der West-Unis natürlich mitkonkurriert. Ich selbst bin jetzt seit fast dreißig Jahren hier und betrachte mich nicht mehr als Westdeutschen. Wenn es ein Problem ist, dann ist es ein Problem der Wahrnehmung von den Leuten, über die geredet wird. Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, spielt dabei natürlich eine Rolle.
Wie weiter in Thüringen?
Ich bin mittlerweile etwas vorsichtiger damit. Im Moment, bei den ständigen neuen Wendungen, würde ich mich auf keine Prognosen festlegen.
Vielen Dank für das Gespräch.