Tod im Seminarraum

Notenspiegel und Creditpoints, Freiwilligendienst und Lebenslauf – das nimmt alles sehr viel Raum ein. Ist noch Platz für ehrliche Begeisterung? Auch für die kleinen Dinge, die wir nicht mehr aus der Hand legen? Ein Kommentar.

Von Sophie Albrecht

 

Neulich, im Seminar, da saß mir eine Tote gegenüber und ich fragte mich, was sie wohl so tot gemacht hatte. Ihre Augen starrten kalt ins Leere, ihre Mundwinkel hingen schlaff von ihren Wangen und keinerlei Regung zeichnete sich ab auf diesem Gesicht – auch nicht, als der Dozent versuchte witzig zu sein (lag aber vielleicht auch am Dozenten).

Ich hätte sie gerne geschüttelt, sie aufgeweckt, damit sich mal was rege auf ihrem Gesicht. Hätte ihr gerne gesagt, ihr solle mal nicht alles so egal sein. Dieses Egal-Sein. Das ist so überall.
Alles verschwimmt in einem milchig-grauen Brei des Desinteresses, des „Ja mei“, der Wurschtigkeit. Woher kommt das? Und wo bleibt die Begeisterung?

Im Studium zum Beispiel. Studieren wir, weil wir uns dafür begeistern, weil wir das so richtig hammer, mega, über-prima finden, was wir studieren? Hüpfen wir morgens beschwingt aus dem Bett, freuen uns auf die nächste Vorlesung, auf das nächste Seminar? Eilen wir voller Vorfreude in Richtung Uni, ganz in Erwartung der Wonne, die Lernen uns macht? Naja.

Wenn die Mädels hinter mir in der Vorlesung über die Katze einer Freundin lästern und sich über ihre Schuhe unterhalten und die Jungs vor mir müde Computerspiele zocken oder Online-Shopping betreiben, dann fällt es auch mir immer schwerer, richtig wach und begeistert bei der Sache zu bleiben. Wenn ich dann auch noch vor dem Lernberg sitze und mir ausrechne, wie viel Prozent ich wohl in welcher Klausur erreichen muss, um wo wie viele Leistungspunkte zu erzielen oder ob ich im nächsten Semester vielleicht Spanisch lernen sollte, weil ich mir das anrechnen lassen kann, dann hört es langsam tatsächlich mit meiner Freude auf und ich sehe mich mit der Frage konfrontiert warum das alles und zu welchem Zweck?

Und wenn sich dann alle nur noch über ihre Noten unterhalten und über die Regelstudienzeit, weil ja BAföG, dann kommen mir wirklich ernste Zweifel, so von wegen: Ey! Worauf kommts denn eigentlich an?! Auf mistige Notenpunkte?

„Weil mich
mathematische Gleichungen
einfach richtig
anturnen.“

Wie wäre es denn mit Studieren und Lernen als Selbstzweck? Studieren, weil ich schon immer ganz unbedingt lesen wollte, wie Platon von Eros und Politeia schreibt oder wie Marx die treibende Kraft gesellschaftlicher Entwicklung im Klassenkampf sieht. Weil ich im Präpkurs wahnsinnig gerne Leichen seziere und schwärmen könnte, wie toll glibberig Hirnmasse ist. Weil ich beim Strafrecht das Gesetzesbuch vor Spannung gar nicht mehr aus der Hand legen kann wie bei einem guten Krimi oder weil mich mathematische Gleichungen einfach richtig anturnen. Nur so als Vorschlag.

Vielleicht sollte ich tatsächlich Spanisch lernen, aber nicht wegen der Credits, sondern weil ich Latinos – oder Latinas – einfach viel heißer finde als mitteleuropäische Jenenser. Oder weil die Sprache echt hübsch klingt.

Aber die Suche nach Resonanz und Geltung, wie sie sich im Anrechnungs­dschungel abzeichnet, findet man überall. Wo es hier Credit Points sind, sind es dort Likes und Abonnenten.
Genauso ist es mit ehrenamtlicher Arbeit und mit ausgefallenen Hobbys. Man fährt nach Mali und hilft armen Waisenkindern, gräbt Brunnen in Namibia, pflegt alte Menschen in Peru oder arbeitet in Israel oder sonstwo; man macht Paragliding, Bungee-Jumping, Wildwasserkajak oder Free-Climbing. Das alles aber um nette Videos in diverse Netzwerke hochzuladen oder um den eigenen Lebenslauf zu pimpen – das klingt ganz wunderbar nach „interkulturellen Kompetenzen“.

Auf YouTube battelt sich die Präpotenz um mehr Däumchen hoch und eitle Gecken aalen sich mit geöltem Haar vor der Kamera, einzig um zu berichten, weshalb der Undercut jetzt nach links und nicht mehr nach rechts toupiert ist. Blondierte oder nicht blondierte Dämchen geben Schönheitstipps und Typen wie die Lochis feiern voll ab, auch wenn sie es selbst sind, die sie da so abfeiern und es da gar nicht so viel zu befeiern gäbe. Eigentlich.

Aber da klappt es dann plötzlich wieder mit der Begeisterung. Sie gilt hier zunächst ja auch vor allem nur der eigenen Person. Mit sich selbst könnte man sich ewig beschäftigen. Wie bei einem guten Krimi.

„Vielleicht sollte ich tatsächlich Spanisch lernen,
aber nicht wegen der Credits,
sondern weil ich Latinos – oder Latinas –

einfach viel heißer finde als
mitteleuropäische Jenenser.“

Bei Faszination kann es aber auch um andere oder um anderes gehen. Und dann ist da auch ständig nur diese Farblosigkeit.
Wenn man fragt, nach dem Konzert, der Beziehung, dem letzten Buch, kommt immer nur ein fahles „gut“ zurück. Selten gibt sich jemand mal so richtig die Blöße, lässt ein Strahlen bis in die Augen zu und beginnt zu schwärmen. Es ist eine Suche nach der goldenen Mitte, nur dass man sie nicht mehr Mitte, sondern Mittelmäßigkeit nennen muss und auch nicht golden, sondern eher blass grau.

Aber wie wäre es denn mit ehrlich Farbe bekennen? Sich begeistern lassen und das dann auch zeigen. Studieren aus Liebe zur Wissenschaft, nicht aus Zweckgebundenheit. Sport machen, weil die Bewegung so gut tut und nicht, weil es einem einen knackigeren Hintern gibt. Helfen weil Hilfe gebraucht wird.Vegan essen – nicht weil es grad voll in Mode ist, sondern weil… öh, lassen wir das.
Aber der Punkt ist klar: Sich mal wieder freuen – und wenn es nur um kleine Dinge geht.

Wieder im Seminar betrachte ich die Tote und wundere mich gar nicht mehr. Am Ende gehe ich zum Dozenten und erzähle ihm einen Witz.

Foto: Marleen Borgert
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