(Br)exit only?

Am 23. Juni können die Briten über den Verbleib oder Austritt ihres Vereinigten Königreiches in der EU entscheiden. Was würde ein Brexit für Studenten in Jena und ganz Europa bedeuten? Eine Spurensuche.

Von Paula Swade

Stellt euch vor: Ein Wochenende nach London schon ein halbes Jahr vorher zu planen, um auch rechtzeitig das Visum zu beantragen, tausende Euros an Studiengebühren für ein Semester in Großbritannien blechen zu müssen und keine Waren mehr von amazon.co.uk zu bestellen, wenn es sie in Deutschland nicht gibt.
Das alles könnte bald der Fall sein, wenn sich die Mehrheit der Briten am 23. Juni für einen EU-Austritt entscheidet. Die Betonung liegt auf „könnte“, denn alles rund um den Brexit ist sehr spekulativ, weiß Gerrit Huchtemann, Soziologiestudent in Jena: „Wenn es zum Brexit kommt, dann könnte die Visafreiheit wegfallen, außerdem das Erasmus-Programm, was es dann für Deutsche schwerer machen würde, in Großbritannien zu studieren.“
Dieses Programm wird seitens der EU gefördert. Laut Jana Blumenstein vom Internationalen Büro erhält die FSU jedes Jahr eine bestimmte Summe an Fördermitteln, die nach EU-Richtlinien vergeben werden. Diese Gelder gibt es prinzipiell nur für EU-Staaten. Für Großbritannien müssten langwierige Verhandlungen abgeschlossen werden, ähnlich wie es in der Schweiz der Fall war. Dort wird ein dem Erasmus ähnliches Programm über Stiftungen mit Schweizer Geldern mitfinanziert, um Studenten weiterhin zu fördern. So ähnlich könnte es dann auch im Vereinigten Königreich sein, erklärt Olaf Leiße, Professor für Europäische Studien an der Friedrich-Schiller-Universität.

30 zu drei

Jährlich studieren circa 30 FSU-Studierende auf der britischen Insel. Diese ist durch allgemein gute Englischkenntnisse unter deutschen Studierenden sehr beliebt. “Leider kommen Briten seltener zu uns“, bedauert Blumenstein.
Eine der wenigen Briten in Jena ist Charlotte Fairclough. Die 21-Jährige studiert Deutsch und Französisch an der Universität Bangor in Wales.
An vielen britischen Unis sind Auslandsaufenthalte bei einem Sprachstudium Pflicht, ihre Universität ist keine Ausnahme. Die gebürtige Birminghamerin ist seit März in Jena und kennt noch drei andere Briten in der Stadt. Zuvor hat sie schon ein Auslandssemester in Frankreich verbracht. Beides wird, dank Erasmus, von der EU mitfinanziert.

Jung gegen Alt

Als „Anwalt der europäischen Idee“ verstehen sich die Jungen europäischen Föderalisten, eine Hochschulgruppe, bei der auch Gerrit Mitglied ist. Diese studentische Gruppe fördert die Verbreitung des europäischen Bewusstseins in der Gesellschaft. Sie veranstaltet eine Vortragsreihe zum Thema „Brexit verstehen – Europa verstehen“. Dabei werden Hintergründe des Brexit beleuchtet, zum Beispiel warum die Wählerschaft der UK Independence Party (UKIP) – eine konservativen Partei vergleichbar mit der AfD – so groß ist.
„Anhänger dieser Partei erhoffen sich durch das Referendum mehr Souveränität für ihr Land, also mehr Entscheidungskompetenzen für die britische Politik“, sagt Leiße.
Aber selbst wenn es zu einem EU-Austritt kommt, dann würden die Auswirkungen immer noch auf sich warten lassen. Laut Leiße ist mit einem „zweijährigen Verhandlungsmarathon“ zu rechnen. Prognosen aufzustellen ist schwer. Umfragen des britischen Meinungsforschungsinstitutes YouGov zufolge sind 44 Prozent der Briten für ein Verbleiben ihres Landes in der Europäischen Union, 40 Prozent wollen diese verlassen. Die restlichen 15 Prozent sind entweder noch unentschlossen oder wollen nicht abstimmen. Umfragen zeigen außerdem, dass die meisten jungen Briten pro europäisch eingestellt sind, während bei älteren Briten die Zustimmung zum Austritt deutlich höher ist.
Viel wird von den jungen Wählern abhängen: Nur 47 Prozent der 18- bis 24-Jährigen geben derzeit an, mit Sicherheit abzustimmen, von den Briten über 65 sagen das 80 Prozent. Charlotte gehört zu den jungen Europabefürworterinnen. Sie hat ihrer Mutter eine Vollmacht geschrieben, sodass sie in ihrem Namen abstimmen kann. Die junge Frau ist normalerweise nicht sehr politisch interessiert, aber sie hofft, dass es nicht zum Großbritannien-Austritt kommt: „Ich studiere eine Fremdsprache!“ Deswegen möchte sie im Ausland arbeiten, was durch mehr Bürokratie schwieriger werden könnte.
Bis jetzt ist aber noch nichts entschieden. Die ersten Hochrechnungen der Abstimmung wird es laut Leiße direkt nach Schließung der Wahllokale am 23. Juni geben. „Das genaue Ergebnis sollte recht zügig vorliegen, denn im Gegensatz zu Wahlen gibt es auf die Frage, ob das Vereinigte  Königreich Mitglied in der Europäischen Union bleiben soll, nur ein Ja oder Nein“, so Leiße. „Verzögerungen wird es nur dann geben, falls ein sehr knappes  Ergebnis vorliegt und eine Seite eine neue Auszählung der Stimmen verlangt.“ Bis dahin heißt es, nicht nur für uns Studenten, sondern für ganz Europa: abwarten und Tee trinken.

Foto: Jeff Djevdet/flickr
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