Der unsichtbare Feind

Bei den einen stillschweigend ignoriert, bei den anderen hitzig thematisiert. Das Reaktorunglück in Tschernobyl vor 30 Jahren war eine Katastrophe und politisch höchst explosiv. Die Wolke und damit der Ärger kamen bis nach Thüringen.

Von Jessica Bürger

Die Lichtung ist in das satte Orange der Abendsonne getaucht, die Schatten der Bäume malen ihre Muster auf den Boden und es riecht nach Moos, Erde und Harz. Irgendwo kreischt ein Vogel auf, der Wind fegt frisch durch die Baumwipfel. Vielleicht sah diese Lichtung vor dreißig Jahren ähnlich aus und strahlte diese Ruhe und Harmonie nur eine halbe Stunde von Jenas Innenstadt entfernt aus. Aber eine Sache war anders. Peter Rohr (Name geändert), gebürtiger Jenenser, macht eine ausladende Handbewegung. „Der Boden war über und über von Pilzen bedeckt. Dass man die nicht essen sollte, wusste niemand. Keiner hat mehr an die möglichen Auswirkungen von Tschernobyl gedacht.“ Regelmäßig geht er in den Wald, um Pilze zu sammeln, und ist rückblickend noch immer erstaunt, wie viele Pilze er im Winter 1986 vorfand. Denn hier wurde etwas sichtbar, was gut ein halbes Jahr zuvor als irrelevant abgetan worden war: Die in Tschernobyl freigesetzte Radioaktivität hatte sich bis in die westlichen Regionen Europas ausgebreitet und im Boden festgesetzt.

Weltweite Ahnungslosigkeit

Am 26. April 1986 kommt es in dem Kernkraftwerk von Tschernobyl, in der heutigen Ukraine, zur Kernschmelze. Einer der Reaktoren explodiert und setzt eine Wolke von radioaktiven Stoffen frei, unter anderem Jod 131, Cäsium 137 und Strontium 90. Alle drei zählen zu den gefährlichen Isotopen. Mit einer Halbwertzeit von 8 Tagen für Jod und 30 Jahren für Cäsium sind sie gut wasserlöslich und verteilen sich schnell in der Luft. Noch am selben Tag wird die Bevölkerung in einer Sperrzone von 30 Kilometern evakuiert, so genannte Liquidatoren sind für die Aufräumarbeiten zuständig. Gut 800.000 Helfer arbeiten am Reaktor, betonieren ihn zu, vergraben radioaktive Trümmer, pumpen verseuchtes Wasser ab. Gegen die hohe Strahlung werden Mundschutz und Blaumänner ausgeteilt, jeder Schritt wird mit einem Geigerzähler überwacht. Doch erst zwei Tage später wird das Ereignis international öffentlich gemacht: „In der Sowjetunion hat sich offensichtlich ein ernster Atomunfall ereignet“ (tagesschau).
Verheimlichung der Fakten

Jedoch waren in diesen zwei Tagen über Polen bereits starke Regenfälle niedergegangen, die sichelförmige Wolke bewegt sich nun auf die Ostsee-Staaten zu. Unverschämt spät und unverschämt vage wird über den Reaktorunfall berichtet. Niemand weiß, was genau passiert ist und welche Auswirkungen es haben wird. In der UdSSR wird der 1. Mai, in der DDR der elfte Parteitag der SED vorbereitet. Mitteilungen über den Strahlenschutz in der Volkswacht gehen neben seitenlangen Artikeln über die Futterernte unter; die Thüringische Landeszeitung setzt auf Berichte über Briefmarken-Sammler. Dagegen bringt der Spiegel eine Woche später eine ganze Ausgabe über das Unglück. Nur in einer Sache bleiben sich Ost und West treu: Die freigesetzte Strahlung hätte keine Auswirkungen auf Mensch und Natur!
Peter Rohr, im praktischen Holzfällerhemd gekleidet, zuckt mit den Schultern und kratzt sich am struppig-grauen Bart. „Hat uns hier nicht wirklich interessiert. Wir hatten unsere Arbeit und unsere Familie, da war keine Zeit mehr, sich über die Leute in Tschernobyl den Kopf zu zerbrechen.“ Diese gehörten auch zum Ostblock, von wo aus Freiwillige zur Hilfe angeheuert wurden – unter verdeckter Hand, versteht sich. Ein abfälliges Schnauben ist die Antwort. Also keine Vorsichtsmaßnahmen, was Nahrungsmittel, Grundwasser, Regenfälle oder Produkte aus östlicheren Gebieten anging? „Nein. Die Werte waren doch nicht erhöht.“

Super-GAU

Während die Werte in den Ostblock-Staaten auch nach Wochen noch immer als stabil und niedrig bezeichnet wurden, so explodierten sie im Westen regelrecht. In Schweden wird bereits am Tag des Geschehens eine 500-fache Erhöhung der Strahlenwerte in der Luft gemessen, Finnland folgt gleichauf. „Spätestens nach einer Woche war uns allen klar, dass Tschernobyl fast ganz Europa verseucht hatte“, sagt Anja Neumann (Name geändert), damals Krankenschwester in Kassel. Von ihrem Balkon aus, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Frankfurt. blickt man über Wiesen und Wälder. Hier ist es fast so ruhig wie auf der Lichtung. Nur Neumanns Hunde schnarchen unter dem Gartentisch. „Die Politiker haben zwar hier und da versucht noch etwas Zeit zu schinden, aber im Grunde hatten die Medien bereits alles ausgeplaudert.“ Was es eben zum Ausplaudern gab: Der sowjetische Botschafter in Bonn war noch immer der Ansicht, die Lage „im Griff“ zu haben. Eine Woche nach dem Unfall kam die Wolke auch in Deutschland an, regnete sich vor allem im Süden Bayerns ergiebig aus. „Die Milch wurde schon Tage früher literweise weggekippt. Aber ab diesem Tag musste auch das Blattgemüse ausgesondert werden. Salat, Spinat, Petersilie, Schnittlauch wurden faktisch nicht mehr verkauft.“ Viele Bauern pflügten ihre Felder um, was später von Umweltforschern kritisiert wurde. Dadurch sei das verseuchte Gemüse weiter ins Erdreich getrieben worden, wo es sich schneller zersetzen konnte und ins Grundwasser gelangte.
Und so vergammelten die Lebensmittel in den Lagerhallen der Großmärkte. Niemand wollte mehr frisches Gemüse kaufen, es war nur noch ein Farbtupfer in den Auslagen. Selbst die Nachfrage nach Gemüsearten, die als wenig anfällig gelten – wie beispielsweise Spargel – brach ein. Auf dem Obstmarkt wurde ein Minus von 80 Prozent vermerkt. Selbst zwei Wochen nach dem Unglück wissen die Bauern noch immer nicht, wie sie mit der Situation umzugehen haben. Dürfen die Tiere wieder weiden und was sollen sie fressen, was nicht? Ein amüsiertes Lächeln erscheint auf Neumanns Gesicht bei der Erinnerung. „Meine Mutter hat all unser Gemüse ausgerissen und zerhackt, um es dann den Tieren zum Fressen zu geben, die wir im Winter darauf geschlachtet haben! Die Menschen haben nicht an die Langzeitfolgen des GAUs gedacht.“ Aus einem zu beherrschenden wurde der größte anzunehmende Unfall: der GAU. Der Spiegel nannte es in seiner Ausgabe Mitte Mai sogar einen Super-GAU. Zum Vergleich: In den ostdeutschen Medien wurde von einer Havarie gesprochen, ein Begriff, der in der Schifffahrt für kleinere Beschädigungen benutzt wird. Neben den Lebensmitteln, die die Supermärkte nicht zu entsorgen wissen, wird andernorts versucht die Strahlung einzudämmen, indem Transporter aus Polen, der Ukraine und sogar der DDR am innerdeutschen Grenzübergang abgefangen werden. Motorfilter müssen ausgetauscht werden, die Ladung wird gefilzt und das Fahrzeug auf Strahlung untersucht. Selbst Reisende dürfen das Land nicht betreten, wenn der Geigerzähler bei ihnen zu stark ausschlägt.

Verstrahlte Politik

Ob GAU oder Defekt, es dauerte nicht lange und Tschernobyl wurde zu einem Synonym. Von fehlendem  Strahlenschutz, mangelnder Berichterstattung, neuem Konfliktpotenzial zwischen Ost und West und einer neuen Debatte über den Ausstieg aus der Atomenergie.

„Ich habe noch heute die Bilder im Kopf, wie die Liquidatoren in ihren dünnen Schutzanzügen den hochverstrahlten Schutt beseitigten“, erzählt Anja Neumann. Kurz herrscht Stille auf dem Balkon. Neumann hat den Kopf etwas schief gelegt, als würde sie vor ihrem inneren Auge die Bilder von damals sehen. „Jeder wusste, wie gefährlich atomare Strahlung war, nur über die konkreten Auswirkungen wollte uns niemand aufklären. Umso verantwortungsloser war es, diese Menschen in den sicheren Tod zu schicken.“ Die von Neumann beschriebenen Bilder werden erst viel später veröffentlicht. Amerikanische Satellitenbilder zeigen nach zehn Tagen noch immer kleinere Brandherde in dem Reaktor. Ausländische Botschafter dürfen einen Hubschrauber-Rundflug über das Gebiet machen, jedoch keine Fotoaufnahmen. In diesem Zeitraum werden auch zum ersten Mal kritische Stimmen gegenüber der sowjetischen Berichtserstattung laut. Die Zeit spricht von einer „menschenverachtenden Informationspolitik“ und stichelt gegen Gorbatschow, der eben auch nur ein Laufbursche Moskaus sei. Insofern nachvollziehbar, als dass noch Tage nach dem 1. Mai seitenlang über dessen Ausrichtung berichtet wird. Nur ein Artikel schafft es in der Thüringischen Landeszeitung am 15. Mai auf Seite 1. Die Fortsetzung nimmt die gesamte zweite Seite ein. Es handelt sich um eine Ansprache Michail Gorbatschows aus dem sowjetischen Fernsehen zu den Konsequenzen von Tschernobyl. Doch handelt der Artikel wenig von den realen Auswirkungen des Unglücks. Ein weitaus größerer Teil handelt von den „kapitalistischen Mächten“, die eine Massenpanik stilisieren würden, wo man doch eigentlich einen ernsthaften Ausstieg aus der Kernenergie erwägen müsste – mit einem internationalen Regime an der Spitze für eine sichere Leitung!

Peter Rohr verdreht diesbezüglich nur die Augen. „Wir wollen nicht dreißig Jahre später noch politisieren. Unsere Medien haben zu wenig berichtet, die westlichen Medien vielleicht etwas zu panisch.“ Für das Pilzesammeln ist es noch etwas zu früh im Jahr, die Saison beginnt frühestens Ende Juli. Tatsächlich muss man noch heute in bayerischen Gebieten aufpassen, welche Pilze man sammelt. Manche weisen weiterhin erhöhte Radioaktivität auf, die dem menschlichen Organismus schaden kann. Hier in Jena sollte das kein Problem sein, zwinkert Rohr. „Die Strahlung gab’s ja nie.“

Foto: Arne Müseler / arne-mueseler.de / CC-BY-SA-3.0
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Eine Antwort auf Der unsichtbare Feind

  • Ich danke für den schön geschriebenen und informativen Artikel! Das hat mir mit meiner Projektarbeit sehr weiter geholfen. 🙂
    Wirklich sehr schön geschrieben.

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