Das Zeitalter der Fische

In dieser Serie widmen wir vermeintlichen und echten Meisterwerken Liebeserklärungen und Hasstiraden. Diesmal: Ödön von Horváths Jugend ohne Gott.

Von Jessica Bürger

Ödön von Horváth sagte: „Ich habe nur zwei Dinge, gegen die ich anschreibe, das ist die Dummheit und die Lüge.“ Bereits zu Beginn seiner literarischen Laufbahn sieht der österreichisch-ungarische Autor Gefahren im Faschismus und verfasst zunehmend Texte und Theaterstücke mit antifaschistischem Inhalt. Diese richteten sich vor allem gegen das Bürgertum des 20. Jahrhunderts, das seine bürgerliche Individualität und Rechtstaatlichkeit in dieser Zeit nahezu vollständig aufgab. Der Schriftsteller versucht der Dummheit mit „Vernunft und Aufrichtigkeit“ entgegenzukommen.
So auch in Jugend ohne Gott, erschienen 1937.
Im Mittelpunkt steht der Kampf eines namenlosen Lehrers gegen das nationalsozialistisch geprägte Denken der Jugend. Umrahmt wird dieser Kampf von einem Mordprozess gegen einen seiner Schüler, der angeblich einen Kameraden umgebracht haben soll. Die Jugend sei zu einem Schwarm Fische verkommen, leicht zu beeinflussen, ohne eigene Meinung und jegliche Individualität. Für den Protagonisten ist die Ursache klar: die abstumpfende Wirkung der Worte des Führers, im Buch als Oberplebejer betitelt. Dessen Volk und Jugend wolle – laut dem Lehrer – ein ebenso mitleidloses Leben führen wie er, das sich gegen jegliche Andersartigkeit richtet.
Der Lehrer behauptet immer wieder, Atheist und eher Beobachter des Lebens zu sein, zudem scheint ein Skeptiker in ihm zu stecken. Die Ursachen der gesellschaftlichen Anpassung sind ihm zwar klar, doch kann er sie nicht nachvollziehen und beginnt sie daher immer stärker zu hinterfragen.
Horváths Gretchenfrage
Doch wo bleibt Gott in dem Ganzen?
Man könnte annehmen in den inneren Konflikten des Lehrers, gefangen zwischen Opportunismus und Schuldgefühlen. Einerseits scheint eine gute finanzielle Lage genug zu sein, um weiterhin mit den Fischen zu schwimmen, andererseits nimmt das Unbehagen des Lehrers gegenüber jeder noch so kleinen Lüge stetig zu.
Vielleicht ist es auch die Anonymität der Charaktere. Auf einen einzelnen Buchstaben reduzierte Geschöpfe, kaum beschrieben. Horváth schafft keine Figuren, sondern eine Schattenkonstellation. Und heißt es nicht, in Gottes Augen seien alle Menschen gleich?
Oder aber es ist die Stimme des Führers aus dem Radio. Gott als Oberplebejer, der Gesetze und Sittlichkeit vorgibt. Das wird gerade in Konstellation mit dem nahenden Krieg und den Militärfeldlagern für die Jugendlichen deutlich. Die Schüler fiebern einem heroischen Tod auf dem Schlachtfeld entgegen, gegenüber dem Leben selbst sind sie gleichgültig.
Schlussendlich ist es eine Mischung aus Allem.
Trotz der vielen Möglichkeiten ist Gott die innere Stimme des Lehrers, die ihn an den nationalsozialistischen Idealen zweifeln lässt. So rein sein Gewissen nach dem Mordprozess auch sein mag, der Lehrer wird damit zum Außenseiter, weil die Gesellschaft Wahrheit – oder um mit Horváths Worten zu sprechen „Aufrichtigkeit“ – nicht toleriert. Für den Protagonisten ist dieser Ausschluss zu Beginn nicht nur verstörend, sondern löst eine Existenzkrise aus, der er mit dem entgegentritt, was er eigentlich verabscheut: Gleichgültigkeit. Heldenhaft und schulterzuckend dreht der Lehrer seinem alten Leben den Rücken zu und schert sich nicht weiter um die Belange anderer Menschen, deren Denkweise er nicht länger versteht.
Charakter vs. Gehorsam
Es ist durchaus berechtigt, dass Jugend ohne Gott an österreichischen Schulen Pflichtlektüre ist. Horváth prägt ein düsteres und melancholisches Bild. Die Jugend der NS-Zeit wird derart seelenlos, von Propaganda verblendet und desinteressiert dargestellt, dass die Stimmung vor Depressivität trieft.
Der Leser wird mit einer minimalistischen Schreibweise, welche an Prägnanz nur schwer zu übertreffen ist, konfrontiert. Kurze Sätze, komprimierte Gedankengänge und kaum wörtliche Rede – Horváth präsentiert dem Leser die Quintessenz seiner Gedanken. Einfache Satzstrukturen und Umgangssprache grenzen die komplexe Thematik des Werkes ein, sodass der Stoff leichter nachzuvollziehen und verständlicher ist. Intellektualität für Durchschnittsleser.
Schlussendlich bleibt nicht mehr als die Verblüffung gegenüber der Emotionslosigkeit des Werks. Hinzu kommt das Staunen gegenüber Horváths angeregter Aufmerksamkeit zu einer weiteren Rezeption, die die NS-Zeit behandelt, und die Skepsis, ob Individualismus und Gerechtigkeitssinn in der heutigen Jugend wirklich ausgeprägter sind als zu manch anderer Zeit.
Oder um es mit den warnenden Worten des Lehrers zu beschreiben: „Wenn kein Charakter mehr geduldet wird, sondern nur der Gehorsam, geht die Wahrheit und die Lüge kommt.“

 

Collage: Bernadette Mittermeier
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