Poetry Overkill

Vom Ende einer Gattung

Von Niclas Seydack

Eine gute Nachricht: Endlich kann Poetry-Slam in das Hospiz der Literaturwissenschaft eingeliefert werden und dort neben Minnesang und dem bürgerlichen Trauerspiel künstlich am Leben gehalten werden. Die Selbstdiagnose, von einem Slammer formuliert, würde wohl in etwa so klingen:

Eine Gattung, die zunächst betörte und sich dann selbst zerstörte / Die begann sich zu wiederholen, sich schlussendlich selbst zu klonen / Sich in einem derart kleinen Radius um sich selbst zu drehen / Bis die Gattung implodierte, anstatt ganz langsam zu vergehen

Poetry-Slam war neu, subversiv oder einfach nur kreischend komisch. Nun erreicht er den absoluten Nullpunkt in Form der neuen Veröffentlichung von Julia one-day-baby Engelmann, die Anfang 2014 Poetry-Slam ins Wohlfühl-Feuilleton katapulierte und damit zu Generation-Y-Versager-Lyrik verstümmelte. Wir können alles sein, Baby beinhaltet alles, was Poetry Slam heute so unerträglich macht. Die 24 Texte erzählen von Engelmanns Leben in Embryonalhaltung: Was wäre, wenn sie sich doch mal nach Island trauen würde, um die „Polarlichter zu sehen.“ Oder: Was wäre, wenn sie sich trauen würde zu „surfen + paragliden“. Stop! Das wird der kleinen Julia doch zu heftig und sie schmiert schnell hinterher: „Vielleicht nur metaphorisch.“
Das alles stellt sich Julia Engelmann vor, auf ihrer Neo-Biedermeier-Bucket-list des Grauens. Fortsetzung der fiktiven Slammer-Selbstdiagnose:

Oh my, 1000 things to do before you die / Letzter Platz: Von Verlagsvermarktern verlagsvermarktet werden als Stimme einer Generation / So schreib ich wieder vom Alltag, in dem fühlen will, so gern in Gefühlen wühlen will / Solange erwachsen – bis wieder Flausen aus dem Kopf wachsen

Übersetzung bei Julia Engelmann: das Gedichtchen „Schlechtestestestester Tag“. Es beginnt durchaus eindringlich mit Julia, die eingesperrt auf dem kalten Fußboden liegt und über den „tiefsten Tiefpunkt, den es je gab“ klagt.
Der Rezensent sorgte sich bereits um die kleine Julia, die dann – ein Glück! – ihre vermeintlich so missliche Lage selbstironisch auflöst: „Wir spielen ‚Consume Diem‘ / Verschwende dein Tag“.
Es vergehen 84 Verse (!), in denen sich Madame nicht aufraffen kann und stattdessen ewig herumfläzt – bis zur großen Pointe: Sie tut es doch! Bestimmt auch metaphorisch! Das ist die narrative Sprengkraft von Poetry Slam 2015.
Wo führt das hin? Bestimmt muss Julia bald als Vorzeige-Slammerin zu Zimmer frei! und erhält dort als erster Gast zweihundert Prozent Grüne Karten. Während sie sich in putzigem Fistelgesang artig bedankt, schwillt sie plötzlich an, bläht sich auf, explodiert und regnet in Form von Konfetti und süßen Gummischlangen auf die Gäste.

Foto: Freddy Radeke

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