Rubensdamen

Eine kurze Geschichte der Essstörungen

Wie hingeflossen sitzt Venus auf einem Schemel, der mit rotem Samt bezogen ist, und begutachtet ihr Abbild im Spiegel, den ihr ein Cupido reicht. Ihr langes blondes Haar wird von einer Zofe gekämmt. Sie ist eine schöne Frau. Der niederländische Maler Peter Paul Rubens stellt die Göttin als perfekte Verkörperung des damals gängigen Schönheitsideals dar, inklusive kräftiger Hüften und üppiger Oberschenkel. Zu seiner Zeit galten weibliche Rundungen vornehmlich als Zeichen von Wohlstand und Lebensfreude. Doch gab es bereits damals Hofdamen, die heimlich nach dem Bankett auf die Toilette gingen und sich dort übergaben? Wurden bereits damals lange Spaziergänge im Park unternommen, um den letzten Heißhunger­anfall ungeschehen zu machen?
Tilmann Habermas, Professor für Psychoanalyse an der Universität Frankfurt am Main, verneint: „Medizinhistorische Studien lassen darauf schließen, dass Bulimie bei normalem Körpergewicht erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts auftrat, in den 20er Jahren und dann erst wieder in den 70er und 80er Jahren häufiger wurde.“ Bereits vorher gab es Beschreibungen von Personen, bei denen sich Stadien mit sehr geringer Nahrungsaufnahme und Heißhungeranfälle abwechselten (schon in der Antike berichteten griechische Autoren davon), jedoch finden sich vor 1900 keine Quellen, die belegen, dass Erbrechen aus Angst vor Übergewicht bewusst herbeigeführt wurde. Auch schon früher gab es Zeiten, in denen dünne Frauen als besonders attraktiv galten. Jedoch wurde bis zur Moderne niemals der normative Anspruch an Frauen erhoben, sich diesem Ideal durch Selbstkontrolle und Verzicht anzunähern. Vielmehr wurden kurzfristig wirksame, externe Hilfsmittel wie etwa Korsetts angewendet.
Ganz eng gekoppelt ist die Entwicklung der modernen Form von Bulimie an die westliche Überflussgesellschaft, in der Arbeit oft nicht mehr körperlich herausfordernd ist. Ebenso trugen die Loslösung des Essens von sozialen Ritualen und die Individualisierung der Nahrungsaufnahme ihren Teil bei.
Anders sieht es bei Magersucht (Anorexia nervosa) aus. Diese existiert nach heutigen Diagnosekriterien etwa seit 1850. Auch hier muss hinzugefügt werden, dass Fälle von (auch bewusst herbeigeführtem) extremem Untergewicht historisch bereits viel länger bekannt sind. Die heilige Katharina von Siena (1347 bis 1380) etwa gilt aus heutiger Sicht als Magersüchtige. Ihre Motivation für den weitgehenden Verzicht auf Essen war jedoch nicht das Halten eines Maximalgewichts, sondern eine Selbstbestrafung aus religiösen Motiven. Diese Form der Magersucht unterscheidet sich also nicht in den Symptomen, sehr wohl jedoch in der Motivation von moderner Anorexia nervosa.
Seitdem Bulimie und Magersucht als eigenständige Diagnosen eingeführt worden sind, haben sie laut Habermas eine „gewisse Anerkennung als Junge-Frauen-Krankheiten. Beide haben die wichtige Funktion, als Krankheiten zu markieren, welche die sozial akzeptierten Grenzen der normativen Selbstkontrolltechniken des Diäthaltens sind.“
Schwierig ist zu klären, welche Bedeutung das Aufbrechen traditioneller Geschlechterrollen für (junge) Frauen im Zuge der Emanzipation für die Entwicklung der Essstörungen hat. Einige Forscher argumentieren, Bulimie sei oft Ausdruck der daraus entstandenen Unsicherheit in der Lebensplanung und Selbstwahrnehmung. Andere sehen in Essstörungen einen Akt der Auflehnung (etwa gegen von Müttern oft noch vorgelebte traditionelle Rollenbilder) und wieder andere erkennen überhaupt keinen Zusammenhang.
Dass Bulimie zu Beginn des 19. Jahrhunderts vornehmlich eine Krankheit von Männern war und erst später mehrheitlich Frauen zu Betroffenen wurden, wird oft nur konstatiert, ohne weiter analysiert zu werden.
Festzuhalten bleibt also, dass Rubensdamen nicht an Bulimie in der uns heute bekannten Form gelitten haben. Nach unserem Wissensstand war aber kein Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte je frei von Essstörungen, lediglich deren Symptome und Motivationen haben variiert.

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