„Das Fleisch ist schwach“

Ein Gespräch über Essen und Hungern in Gemeinschaft

Professor Claudia Neu.
Professor Claudia Neu. Foto: privat.

Professor Claudia Neu ist Soziologin und lehrt an der Hochschule Niederrhein. Sie beschäftigt sich unter anderem damit, wie Ernährung unser Dasein prägt. Mit Akrützel sprach sie über das Frauenbild, Gruppenidentifikation und disziplinierten Verzicht.

Wie beeinflussen Gesellschaft und Ernährung einander?
Das Anlegen an die Brust der Mutter ist unsere allererste Erfahrung, die unmittelbar mit Ernährung verbunden ist. Die Verbindung von Gemeinschaft und Essen ist für Menschen ganz grundlegend. Wir können uns in den ersten Lebensjahren nicht alleine versorgen, sondern werden durch andere versorgt. So erleben wir Ernährung und Gemeinschaft als zusammengehörig. Auch später dient die gemeinsame Mahlzeit als „Gemeinschaftserzeuger“. Zum Beispiel die Tisch- oder die Glaubensgemeinschaft, die im Christentum durch die Hostie oder das Brotbrechen symbolisiert wird.
Natürlich können wir gleichzeitig mit unserem Essverhalten unendlich gut Differenzierung verdeutlichen. Das kann man wunderschön bei Vegetariern sehen: „Ich esse kein Fleisch, du bist nicht wie ich.“ Die gesellschaftliche Dimension sehen wir auch, wenn wir über Klimawandel und die demografischen Veränderungen nachdenken. Das sogenannte Teller-Tank-Dilemma verdeutlicht, dass der Anbau von beispielsweise Mais zur Kraftstoffherstellung in Konkurrenz zur Erzeugung von Lebensmitteln tritt. Damit ist klar, dass Ernährung auch politisch ist.

Wie werden Essstörungen von gesellschaftlichen Gegebenheiten beeinflusst, auch was die Häufigkeit betrifft?
Das ist eine schwierige Frage, auf die ich bisher keine abschließende Antwort kenne. Bestimmte Formen von Magersucht hat es immer schon gegeben.
Heute kann man sagen, dass Magersucht vor allem in bestimmten Bevölkerungsgruppen auftritt – bei weißen jungen Frauen aus der Mittelschicht. Doch auch die Zahl der betroffenen jungen Männer nimmt zu.
Als Ursache steht häufig das mediale Frauenbild im Fokus. Meines Erachtens ist aber der Zusammenhang nicht ganz so eindeutig. Natürlich herrscht ein Frauenbild in unserer Gesellschaft vor, dem nur die allerwenigsten Mädchen und Frauen entsprechen. Doch wenn ich etwa die „Freundin“ aufschlage, werde ich danach nicht gleich magersüchtig – wenngleich sich viele Frauen , das belegen auch Umfragen, von den Models in den Zeitschriften unter Druck gesetzt fühlen. Wahrscheinlich sind es aber andere Dinge, wie Familienkonstellationen zum Beispiel, die eine Magersucht auslösen.

Diese Problematik betrifft aber eher die Wohlstandsgesellschaft.
Ja, genau. Mich dadurch abzugrenzen, dass ich nicht esse, macht nur Sinn, wenn alle anderen im Wohlstand leben. Man kann also sicher die Krankheit auch als bestimmte Form von innerer Abgrenzung sehen. Wenn alle arm sind und alle hungern, ist das schwierig.

Magersucht in Verbindung mit Askese ist positiv konnotiert. Wird das allgemein so betrachtet oder sehen das nur Magersüchtige gerade in Bezug auf die Disziplin so?
Viele Magersüchtige versuchen jahrelang, die Krankheit zu verheimlichen, mit vielen Klamotten zum Beispiel. Das wird nur selten ganz demonstrativ zur Schau gestellt. Niemand erlebt das als schön, und Männer finden das schon gar nicht, vermute ich. Einige, die ein bisschen zu viel auf den Hüften haben, mögen dennoch ein wenig neidisch schauen und denken: „Wenn ich mich nur einmal so disziplinieren könnte.“ Ohne dass man deswegen auch gleich magersüchtig werden möchte.

Wie ist das im Fall von Adipositas?
Adipositas ist natürlich ein Stigma ohnegleichen. Dicksein wird verbunden mit Faulheit, Gefräßigkeit, Unmäßigkeit – mit Dingen also, die in der Leistungsgesellschaft negativ konnotiert sind und grundsätzlich abgelehnt werden. Das kann man schon bei Kindern feststellen. Adipöse Kinder fühlen sich ausgegrenzt und sind es wahrscheinlich auch.

Wie schätzen Sie Bewegungen wie Pro Ana, die Magersucht zum Schönheitsideal erklären, ein?
Ich kann mich in die Kranken nur schwer hineinversetzen. Aber so eine Community, in der man sich mit gegenseitigen Durchhalteparolen motiviert dabeizubleiben, hat etwas Pseudoreligiöses. Es bleibt aber eine Zwangskrankheit. Das ist ja keine Modeerscheinung. Nicht umsonst sterben so viele Menschen daran, und Magersucht ist nur schwer zu heilen.
Diese Form der Magersucht-Community ist aber erst durch Internetforen möglich geworden. Das war sicher in derselben Weise früher nicht denkbar, da hat man eher still und alleine gelitten. Jetzt kann man mit anderen auch noch öffentlich leiden und dieses Überlegenheitsgefühl wesentlich besser demonstrieren. Es ist eine bestimmte Form von Gemeinschaft, die sich da findet.

Wie würden Sie die Einstellung der Menschen gegenüber Ernährung heute einschätzen?
Wir können nicht davon ausgehen, dass die Menschen zu wenig Ernährungswissen haben. Nur Verhalten und Wissen decken sich nicht. Wir wissen, was angeblich gut für uns ist und verhalten uns trotzdem nicht so. Man isst noch ein Stückchen Kuchen, weil man gerade so nett beieinander sitzt. Oder man isst, weil man sich alleine fühlt oder einfach nur, weil es schmeckt.
Heute muss ich mich mäßigen, weil ich eigentlich die ganze Zeit essen könnte und Nahrung überall verfügbar ist und auch zu jeder Zeit. Straßencafés und Take-Away-Restaurants haben dazu extrem beigetragen.
Manchmal wird sehr bösartig über den Zusammenhang von Fettleibigkeit und Unterschicht gesprochen. Ich denke, Sie finden auch in der Unterschicht niemanden, der behaupten wird, dass eine Tüte Chips gesünder ist als ein Kopfsalat. Aber es gibt natürlich andere sehr starke Kräfte, die Menschen trotzdem veranlassen, sich anders zu verhalten.

Diese überwiegen dann Ihrer Einschätzung nach?
Ja, der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach.

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