Eine Paprika am Tag

Wie Studenten mit Essstörungen kämpfen

Eine Paprika.
Foto: Maximilian Gertler

Lara* hat große blaue Weltkugelaugen. Aus denen schaut sie entschlossen und spricht dazu mit fester Stimme. Ihre Haut sieht nach Sonne und Meer aus, die dunklen Haare fallen immer wieder trotzig in ihr Gesicht. Lara sieht gesund aus. Ihre Erscheinung gibt keine Anhaltspunkte auf das, was sie im nächsten Moment berichten wird.
Die Geschichte ihrer Essstörung erzählt sie offensichtlich nicht zum ersten Mal. Jede Begebenheit hat sie bis ins kleinste Detail analysiert. Angefangen hat alles im Alter von 15 Jahren, als sie von einem Frankreichaufenthalt zurückkam – mit fünf Kilo mehr auf den Hüften. Eigentlich wollte sie die nur schnell wieder abnehmen, aber andere Probleme kamen hinzu: schlimme Streitereien zwischen ihren Eltern und Schwierigkeiten mit dem Freund. In dieser Lebensphase, in der ihr alles zu entgleiten drohte, wollte Lara wenigstens die Kontrolle über ihren Körper behalten und hörte auf zu essen.
„Magersucht ist eine der häufigsten Todesursachen bei jungen Frauen“, sagt Diplompsychologe Dr. Uwe Berger aus Jena. Das heiße aber nicht, dass Männer nicht davon betroffen sind. Mädchen erkranken jedoch dreimal häufiger daran als Jungen. Ein Grund dafür könne sein, dass bei ihnen während der Pubertät sichtbare körperliche Veränderungen auftreten und sie mehr unter Beobachtung stünden – sowohl untereinander als auch durch Jungen. „Wir müssen uns vor Augen halten, dass es sich bei Essstörungen um schwere psychische Krankheiten handelt, die oftmals nicht zu stoppen sind, auch dann nicht, wenn man sich professionelle Hilfe holt.“

Alles dreht sich ums Essen

Verselbständigt hat sich die Magersucht auch bei Lara. Innerhalb von drei Monaten nahm sie 24 Kilogramm ab. Gegen den Hunger trank die damalige Schülerin bis zu sieben Liter Wasser und aß nur eine Paprika am Tag. Obwohl Lara schon zu den Besten in ihrer Klasse gehörte, wurde sie auch hier immer ehrgeiziger und versuchte alles in ihrem Leben zur äußersten Perfektion zu treiben. Der Hunger verlieh ihr ein Gefühl von Willensstärke, von Überlegenheit anderen gegenüber, die sich dem Essen hingaben und ihm nicht widerstehen konnten. „Man beschäftigt sich den ganzen Tag mit Nahrungsaufnahme, isst aber effektiv nichts“, sagt sie. Am Anfang fühlte sich das Abnehmen noch gut an, es gab Komplimente von Mitschülern, auch war das Nicht-Essen Rebellion gegen ihre Eltern.
Gründe für Essstörungen gibt es viele, sie sind individuell verschieden. Ein geringes Selbstwertgefühl, familiäre Probleme, Kindheitskonflikte, Trennungssituationen und häufig auch sexueller Missbrauch können vorausgehen. „Es gibt kein allgemeingültiges Modell für die Entstehung der Krankheit“, erklärt Berger. Zum Beispiel erscheine es intuitiv einsichtig, dass junge Mädchen eine Essstörung entwickeln, weil sie sich eventuell mit dünnen Models identifizieren. Allerdings bekommen die wenigsten Mädchen und jungen Frauen eine Essstörung, weil sie wie Models aussehen wollen. Viele Patienten sagen, dass das bei ihnen überhaupt keine Rolle gespielt habe.
Das bestätigt auch Carolin: „Ich habe nie Modezeitschriften gelesen, und Model werden wollte ich schon gar nicht.“ Die Studentin leidet bereits ihr halbes Leben unter Magersucht. Unfassbar zerbrechlich sieht sie aus, wie sie da sitzt, auf dem viel zu großen Stuhl. Begonnen hat ihre Krankheit im Alter von 14 Jahren. Über die genauen Gründe sprechen möchte sie nicht. Genau wie Lara entschloss sie sich damals, weniger zu essen, zählte wie besessen Kalorien, aß schließlich einmal zehn Tage am Stück überhaupt nichts. „Seit der Pubertät dreht sich alles permanent darum, ob und was ich esse und wie viel.“ Carolin kann genau aufzählen, was sie am Tag zu sich nimmt: abends ein bisschen Gemüse und Magerquark, oder Obst mit Jogurt, damit das Hungergefühl sie nachts nicht aufweckt.
Ihre Kommilitonen wissen zwar über ihre Krankheit Bescheid, trotzdem ist sie erleichtert, wenn sie von 12 bis 14 Uhr Vorlesung hat und somit um die Mensazeit herumkommt. Abends wartet ihr Mann auf sie, der früher selbst unter Essstörungen gelitten hat und genau weiß, was in ihrem Kopf vor sich geht.

Umgang mit Betroffenen

Gerade für Angehörige ist es schwer, mit der Essstörung eines Betroffenen umzugehen. Beate Schuhmann von der psychosozialen Beratungsstelle der Uni Jena rät: „Wenn eine gute Vertrauensbasis vorliegt, sollte man das Thema vorsichtig ansprechen. Auf keinen Fall dürfen Betroffene kontrolliert und ständig gefragt werden, ob sie heute schon gegessen haben. Es darf sich keine Co-Abhängigkeit zu einer Person aufbauen, die das Essverhalten des Betroffenen kontrolliert.“
Den Umgang mit Be­troffenen hat auch Heike Vester, Erziehungswissenschaftsstudentin, als Betreuerin in einer Wohngemeinschaft für essgestörte Jugendliche miterlebt. „In der Wohngemeinschaft mussten alle für sich selbst lernen, wieder normal und ausgewogen zu essen. Beim gemeinsamen Abendbrot war meine Funktion, ein gutes Vorbild zu sein.“ Sozialpädagogische Wohngemeinschaften der „Stiftung Dr. Georg Haar“ gibt es in Jena und Weimar. Aufgenommen werden Schüler und Studenten, die einen Klinikaufenthalt hinter sich haben und die dort gelernten Verhaltensweisen nun in den Alltag integrieren sollen.
Mit einem Gewicht von 29 Kilogramm war Lara im Februar 2005 von einem normalen Alltag weit entfernt. „Wenn du so weitermachst, wirst du dein 16. Lebensjahr nicht erreichen“, warnte sie eine Ärztin.
Innerhalb der nächsten zwei Jahre folgten zwei stationäre Aufenthalte, in denen Lara einen anderen Umgang mit Essen lernte und langsam wieder zunahm. „Iss auch, wenn es dir schlecht geht“, sagte man ihr während der Therapie immer wieder. Ein Ratschlag, der sich für sie später nicht als hilfreich erweisen sollte. Vor dem Abitur ging es Lara wieder schlechter. Sie war unglücklich verliebt und litt unter Prüfungsstress. Eins war ihr jedoch klar: „Ich rutsche nicht wieder in die Magersucht ab und esse, auch wenn es mir schlecht geht.“ Das war der Punkt, an dem sie eine sogenannte Binge-Eating-Störung entwickelte.
Lara begann nun unkontrolliert zu essen, leerte an einem einzigen Abend in einem halbbewussten Zustand Kühlschrank und Speisekammer ihrer Eltern, aß, bis ihr der Bauch zum Platzen wehtat, und hörte nicht auf, bis sich ein Schmerz in ihrem Magen breit machte. „Ich aß alles, was ich finden konnte“, erzählt sie. Die Bauchschmerzen waren von da an ein Weg, ihre Probleme zu betäuben.
Mittlerweile studiert Lara in Jena. Die Fressanfälle haben aber immer noch einen Platz in ihrem Alltag. „Sich mit Essen betrinken“, so beschreibt sie die Anfälle. „Eine Art Kontrollverlust in einer Welt, in der sich alles um Perfektion dreht. Immer toll aussehen müssen, den perfekten Partner haben, einen gutbezahlten Job anstreben und bei allem noch entspannt und bestens gelaunt sein.“ Durch das unkontrollierte Essen hat Lara nun Gewichtsschwankungen von bis zu 12 Kilogramm im Jahr.
Die Denkstrukturen der Magersucht seien zwar noch in ihrem Kopf, mit dem Binge-Eating gehen allerdings ganz andere Probleme einher: „Es geht dabei um die Liebe zu sich selbst. Das bekomme ich einfach nicht hin. Dem Idealbild des heutigen Menschen gar nicht entsprechen zu können, damit kann ich mich nur schwer abfinden“, erklärt sie.

Von einer Sucht in die andere

Die Erfahrung, dass eine Essstörung auch in eine andere umschlagen kann, hat auch Sophie* gemacht. Die 22-jährige Medizinstudentin litt erst jahrelang unter Magersucht, bis sie dann in die Bulimie hineingeriet. „Als ich meinen Studienplatz bekommen hatte, wusste ich, dass ich keine Essstörung mehr will. Ohne ging es dann aber anscheinend auch nicht.“ Während des Studiums bekam Sophie plötzlich Heißhungerattacken, nach denen sie sich übergab. „In der Prüfungszeit wird es wieder schlimmer“, erzählt sie. „Ich achte dann darauf, nichts einzukaufen, was ich für so einen Ess-Brech-Anfall verwenden könnte.“
Uwe Berger erklärt, dass es nicht stimmt, dass jemand entweder dazu neigt, dick oder dünn zu sein, wie viele glauben. „Magersüchtige können aus dem Übergewichtsbereich kommen und dann eben versucht haben etwas dagegen zu tun.“ Berger erklärt auch, dass die Hälfte aller Betroffenen unter Mischformen leidet, also Magersucht zum Beispiel mit Bulimie einhergeht.

Prävention an Schulen

Die hier erwähnten Personen haben unterschiedliche Essstörungen, doch eine Sache haben sie gemein: Die krankhafte Auseinandersetzung mit dem Essen begann schon in der Pubertät. Das wirft die Frage auf, was getan werden könnte, damit es erst gar nicht so weit kommt. Geforscht hat dazu Uwe Berger. Eines der Programme, das er zusammen mit Andreas Schick vom Heidelberger Präventionszentrum erstellt hat, um Essstörungen bei Jugendlichen vorzubeugen, heißt „PriMa“ – Primärprävention Magersucht. Das Programm richtet sich an 12-jährige Mädchen. „Wir haben versucht, das Thema altersgemäß zu vermitteln und entwickelten Poster mit Barbiepuppen als zentraler Figur“, erzählt Berger. Diese Poster wurden mit Zitaten von betroffenen Mädchen unterlegt, um Diskussionen und eigenständige Verhaltensänderungen anzuregen. PriMa und Folgeprogramme für andere Essstörungen seien bisher an über 100 Thüringer Schulen durchgeführt und evaluiert worden. Die Auswertung von Fragebögen soll gezeigt haben, dass sich zumindest der Körperselbstwert der Mädchen, die an den Programmen teilnahmen, deutlich verbessert hat.
Ist man einmal im Teufelskreis einer Essstörung gefangen, ist es extrem schwierig wieder herauszufinden. „Tief in meinem Inneren möchte ich gar nicht so sein“, sagt Studentin Carolin. Sie möchte nichts mehr, als unbeschwert leben, wie andere Studenten auch. Mit Kommilitonen in der Mensa essen oder abends einen Cocktail mit ihrem Mann trinken gehen, ohne am nächsten Tag akribisch Kalorien einsparen zu müssen. „Auch wenn ich mir wünsche davon loszukommen: Ein Teil der Krankheit hält mich einfach fest.“

* Namen von der Redaktion geändert.

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